Grimms Erben
Verzeihung.«
Das Bild mit dem schmollenden Mädchen legte er neben sich auf die Erde.
Das Imagistrat
VERWUNDERLICH, ABER DOCH.
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Samuel Boden war ein Lesenarr. Eine Leseratte, ein Bücherwurm… Samuel konnte sein Geld aber nicht mit Lesen verdienen, wie auch? Samuel war Bäcker, genauer gesagt, Bäckerlehrling. Seinen Meister brachte er ständig zur Weißglut, weil er in jeder freien Sekunde ein Buch vor der Nase hatte, das mit Teigresten übersät und verklebt war. Samuel pflegte sogar in Momenten zu lesen, in denen er eigentlich arbeiten sollte. »Samuel, oh Samuel, bitte, geh deiner Arbeit nach. Ich kann dich doch nicht fürs Herumstehen bezahlen oder fürs dumm in die Seiten Blicken. Der Teig, Samuel, die Lauge, das Mehl, der Kuchen, die Körner, das Kneten. Muss ich dir denn alles vorbeten?« Der Bäckermeister verzweifelte.
Eines Morgens packte er sich den Jungen und sprach: »Gestern war ich in der Kneipe, Samuel. Hör mir zu. Verdammt, pack das Buch weg und hör mir zu!«
Samuel blickte auf. »Sie waren in der Kneipe. Und?« Sein Kopf senkte sich wieder dem Buch entgegen.
»Es gibt ein Gerücht«, sagte der Bäcker. »Ich weiß nicht, von wem, aber es macht die Runde. In der Stadt gibt es einen gewissen Doktor Greif. Er hat eine Maschine erfunden, Samuel, bitte, hör mir zu. Es hat mit Büchern zu tun. Mit Lesen und mit Phantasie. Bitte, Samuel, geh dorthin, nimm dir da eine Arbeit, falls dies möglich ist. Werde glücklich, aber komme mir nie wieder unter die Augen. Es ist schrecklich mit dir. «
Samuel blickte auf.
»Doktor Greif, sagen Sie?«
Der Bäcker packte ihn an den Oberarmen. »Samuel Boden, ich mag dich. Ich will dich aber nicht mehr hier haben. Du bist mir keine Hilfe, im Gegenteil. Geh dorthin, es ist jenseits der drei Brücken.« Der Meister drückte Samuel und schob ihn anschließend aus der Stube.
So machte sich der ehemalige Bäckerlehrling Samuel auf in die Stadt und fand jenseits der drei Brücken ein futuristisches Gebäude, auf dem ein Schild über dem Eingangstor prangte.
IMAGISTRAT
INSTITUTION ZUR ERHALTUNG VON PORTIONIERTER PHANTASIE UND AUSLEBUNG IMAGINIERTER ABENTEUER. LESEMASCHINEN. GEDANKENWANDLER ETC.
Interessiert trat Samuel Boden ein und lernte die Welt des Doktor Greif kennen. Der Mann war eine imposante Figur, hochgewachsen, aber schmächtig — fast hager. Er trug gutgeschnittene schwarze Anzüge, die ihn eher wie einen Zauberer aussehen ließen als einen Doktor oder Forscher. Er hatte einen Gehstock, den er auch bei der Bedienung der Maschinen nie aus der Hand legte. Der Stock hatte als Knauf ein aus Messing nachgebildetes geöffnetes Buch, das bestens zu der verrückten Umgebung in des Doktors Hallen passte.
Es war eine phantastische Welt voller Geheimnisse. Doktor Greif fand das Interesse des jungen Mannes bestens, erläuterte ihm die Funktion seiner Maschinen und erklärte ihm die Handhabung der unzähligen Knöpfe, Schalter und Armaturen.
Da gab es zum einen die Möglichkeit, mit Hilfe eines überdimensionalen Helms, aus dem Schläuche und Glühbirnen führten, Bücher hundertmal schneller lesen zu können als gewöhnlich, ohne den eigentlichen Lesegenuss zu schmälern. Der Lesetempomat. Die Spannung, das Aufnehmen der Erkenntnisse, die Handlungsstränge fahren in gefühlter Echtzeit ins Gehirn. In Wahrheit hat man das Buch ausgelesen, und es sind höchstens zwei Minuten vergangen. Zeit ist das größte Gut des Menschen, behauptete Doktor Greif, deswegen solle man sie mit der Herrlichkeit des Lesegenusses kombinieren. Schnelleres Lesen bringt mehr Genuss. Das war klasse, wie Samuel fand.
Eine weitere Maschine war der Wort-Bilder-Transformator. Er glich einem Brotkorb aus Blech, der allerdings bläulich schimmerte und eine Projektionsfläche aus Glas auf der Vorderseite besaß. Legte man ein Buch hinein, so erschien nach dem Schließen der Klappe auf der schimmernden Projektionsfläche der Ablauf der Handlung in bewegten Bildern wieder. Wahnsinn, wie Samuel fand.
Es gab noch weitere kleine Entdeckungen und Erfindungen. Darunter der Neongriffel, die Transport-Seiten-Galerie, die Buchstampflaube, das Buch der leuchtenden Buchstaben und noch etliche Kleinigkeiten und kurioser Krimskrams.
Das größte Geheimnis allerdings war der Imagistrator. Eine große Kabine aus Stahl, die in einer riesigen Halle untergebracht war. Sie glich einem U-Boot aus einem Jules-Verne-Roman. Wer die Kabine betrat, wurde in einen tranceähnlichen
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