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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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dann? Das Zuhause eines Professors? Eines Pädagogen? Eines Schriftstellers?
    Er würde liebend gerne lesen. Jedem einzelnen Buchstaben dieser Schatzkammer durch seine Pupillen Eintritt in sein Inneres gewähren lassen. Aus jedem Satz Bilder zeichnen. Jedes entstehende Gebilde in seinem Kopf zum Tanz auffordern. Ich brauche Zeit, dachte er sich. Zeit zu lesen.
    Unfassbar. Er entdeckte in einer unteren Reihe Melvilles »Moby Dick«, zog es heraus und begann mit zittrigen Fingern die Seiten umzublättern.
    »Moby Dick. Ein Zeichen, ein gutes.«
    Ignaz musste unwillkürlich an Aki denken. Unzählige Male hatten sie nachts in ihren Betten gelegen und auf einen hellen Mond gehofft, der ihnen doch bitte ein wenig Licht zum Lesen spenden mochte. Waren sie nicht in Karl Mays Reiseberichte vertieft, so waren es die Abenteuer der Pequod, die sie, in ihre Daunen gewickelt, fesselten. So lange, bis die Schwerkraft an den Augenlidern zerrte.
    »Morgen mehr. Gute Nacht, Pip.« Mit diesen Worten beendete sein großer Bruder die Lesenächte, und ein wenig musste sich Ignaz immer ärgern, weil er viel lieber mit Queequeg, Tashtego oder Daggoo, den Harpunierern, verglichen worden wäre als mit Pip, dem Schiffsjungen.
    Ihre wilden Träume versprachen ihnen alles. Beide wussten, das waren nur Hirngespinste. Sie bauten Luftschlösser, aber auf formidable Art und Weise. Doch bei einem waren sie sich ganz sicher. Irgendwann einmal würden sie sich ihr wirkliches »Schloss« errichten. Sie würden in einem Wal leben, so wie Jonas. Eine architektonische Skizze des zukünftigen Bruderheims bestand bereits. In einem Wal zu leben bedeutete Geborgenheit und Sicherheit, zeugte aber auch von Stärke, Rebellion, schöpferischem Freigeist und phantastischer Freiheit. Ihr Haus wird einmal Moby Dick nachempfunden sein! Das nahmen sie sich fest vor.
    Seine Finger blätterten aufgeregt durch Melvilles Seiten. Er stillte hastig seinen Durst nach geschriebenen Wörtern, wobei es ihn schon wieder in den Fingern juckte.
    Bleistift.
    Papier.
    Schreiben. Er rüttelte kurz an der roten Blechschachtel im Beutel.
    Nicht jetzt, gebot er sich Mäßigung. Zurück mit dem weißen Wal. Er war gerade im Begriff, Kapitän Ahab samt Schiffsmate und dergleichen an seinen Ursprungsort zu schieben, da…
    »Auge!«
    Ignaz erschrak so gewaltig, dass er einen Satz nach hinten machte, der ihn über einen gepolsterten Schemel stolpern ließ. »Moby Dick« entglitt ihm.
    Durch den Spalt, den er mit »Moby Dick« wieder füllen wollte, sah ihm ein Auge entgegen. Diese Tatsache verstörte ihn so sehr, dass ihn die Heftigkeit des Schocks jenen Begriff ausrufen ließ, den er sah. »Auge.« Er kam langsam hoch, versuchte zu verstehen, was ein menschliches Auge in einem Bücherregal zu suchen hatte.
    »Hallo?«, fragte Ignaz leise und bewegte sich gebückt auf die glänzende Iris zu.
    »Hallo?«
    Das Auge war weg. Stattdessen erkannte er ein Augenlid, was nicht sonderlich besser zum Verständnis der Situation beitrug.
    »Hallo?«, flüsterte er ein drittes Mal und begann, weitere Bücher zu entnehmen, um die Lücke zu vergrößern. So legte er ein weiteres Augenlid frei, ein Antlitz mit geschlossenen Augen.
    »Guten Tag, mein Name ist Ignaz Buchmann. Haben Sie keine Angst.«
    Die Augen öffneten sich, und er erkannte, Teufel noch eins, jawohl, die traurigen Augen des kleinen schmollenden Mädchens auf dem Lichtbild in der roten Blechschachtel. Sie zitterten vor Angst.
    »Versteck dich!«
    »Was sagst du?«, wollte Ignaz wissen und bemerkte sogleich, dass die nachdrückliche Aufforderung nicht zu den kindlichen Augen passte. Die Stimme war viel zu erwachsen.
    »Hau ab. Verschwinde, ehe man uns hier aufspürt.«
    Es mussten sich noch weitere Personen in diesem Holzkasten befinden, die sich mit einer Wand aus Millionen Wörtern tarnten. Wie viele, vermochte Ignaz nicht abzuschätzen. Zwei Personen mindestens.
    »Natürlich. Es… es tut mir sehr leid.«
    »Hau endlich ab!«, zischte es durch die gedruckten Seiten.
    »Natürlich. Alles Gute.« Ignaz wankte benommen aus dem Zimmer. Welch traurige Möglichkeit, am Leben zu bleiben.
    Aus dem Treppenhaus schallte eine kehlige Stimme. »Hier hoch, Sauckel. Es kam aus dem ersten Stock.«
    Verdammt, fuhr es durch Ignaz. Ein Blitz zuckte durch seine Glieder, mit drei Sätzen war er in der Küche, trat eilig auf den Balkon und spähte mehr schlecht als recht in den Hof, den er aus Zeitmangel zwangsläufig als einzigen Fluchtweg ausmachte.
    »O

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