Grimms Erben
nein!« Beim Herabklettern an der Regenrinne fiel es Ignaz ein. Sein Magen verengte sich stechend. Er hatte die Bücher nicht zurückgestellt. Er sprintete aus dem Hinterhof. Tränen liefen ihm quer über die Schläfen in seinen Gehörgang.
Im Laufen drückte eine miese Übelkeit gegen seinen Kehlkopf. Sein Magen verkrampfte sich, und bei jedem Schritt boxte ihn das Organ von innen gegen das Zwerchfell. Die Vorstellung, die Familie hinter dem Bücherregal durch seine Unachtsamkeit verraten zu haben, trieb ihm Sand in sein bisher funktionierendes Getriebe. Er wäre gerne leise umgekehrt, was sinnlos gewesen wäre. Stattdessen bat er laut um Verzeihung, was ebenso sinnlos war.
Stillstand. Auszeit. Es reichte. Er musste sich übergeben. Es war nicht die körperliche Anstrengung, gepaart mit Nährstoffmangel, die seine Magensäure aus den inneren Tiefen holte. Er war schlicht und ergreifend angekotzt von dem andauernden Zustand, flüchten zu müssen. Und von all den Verbrechen, denen er auf seinem Weg gewahr wurde.
Um nicht als Deserteur aufzufliegen, schlich er nun seit vielen Monaten durch die Gegend, sich wie ein Chamäleon tarnend, tausend verschiedene Rollen spielend, dreist in der Absicht zu stehlen, sich als Lügner und Rüpel Vorteile verschaffend. Von Bayern nach Polen. Nun saß er hier an diesem unglaublich tauben Ort fest. In einem wohl ausradierten Sektor des Gefängnisses der Sternenträger. Welch Groteske wurde ihm gespielt? Er weinte. Wieder würgte er Galle auf den Asphalt. Das war die Boshaftigkeit der Menschheit, die ihm Übel und Verzweiflung bereitete.
Eigentlich war es ein Wunder, dass er so weit gekommen war. Dass er nicht schon früher aufgeflogen, oder auf einer seiner zahlreichen Fluchtattacken erwischt worden war. Oftmals durchkreuzte er die Nacht in Hektik, sich mit Hilfe der Sterne den Weg bahnend. Je näher er Raffael Krupp kam, desto anstrengender wurde der Slalomlauf. Irgendwann waren die Sterne vom Himmel gefallen und auf Armbändern, die an Mäntel und Kleider befestigt waren, gelandet. Als Schmierereien an Schaufenstern und Hauswänden fand er sie wieder. Widerwärtig. Ignaz schien nun selbst diesen Menschen, die sich jeder Menschlichkeit entledigt hatten, zum Opfer zu fallen. Obwohl er kein Sternträger war.
Er irrte durch ein Labyrinth, durch das sich langsam leerende Gefängnis der Sternenträger. Und er selbst trug Mitschuld, Schuld an dem Tod jeder Familie oder zumindest an ihrer Deportation.
Mit der Erholung kam der Klang.
Es mochte durchaus sein, dass ihm die Trauer und Erschöpfung, der Hunger und die Schmerzen eine akustische Fata Morgana vorgaukelten, er allerdings war sich plötzlich dieser Geräusche sehr sicher. Musik drang an sein Ohr.
»Unterwassermusik.«
Ignaz vernahm Klavierspiel. Eine märchenhafte Melodie, die nach geheimnisvollen Wasserwelten klang.
Für den Bruchteil einer Sekunde war er glücklich. In diesem Moment war es ihm egal, ob es ein Echo seiner Phantasie oder ein reales Musikstück war. Wer zum Teufel sollte hier in diesem von allem Menschlichen verlassenen Ort Piano spielen? Es könnte natürlich ein Grammophon sein. Oder ein Schwarm Vögel, der über ihn hinwegziehend Lieder von besseren Zeiten singt. Als er sich mit dem Zeigefinger die Tränen aus den Ohren strich, war er sicher:
Es sind Geräusche von auf Pflastersteinen stampfenden Stiefeln. Schreie unterbrachen seine seligen Grübeleien – und Schüsse. Die Jagd ging weiter. Er setzte sich in Bewegung, und sein ganzer Körper brannte.
Das Märchen aus dem Koffer
Unweigerlich und gänzlich unangebracht musste Ignaz an eine andere Jagd denken. Da war nicht er die Beute gewesen. Auch nicht der Jäger, und auch sein Bruder Aki hatte keine dieser Rollen eingenommen. Trotz seiner neuerlichen Flucht und der körperlichen Anstrengung sprang ihm die Geschichte in die Erinnerung.
Der Bürgermeister Sepp Holzner, ein Graf namens Dagobert von Winklhausen, der Pferdezüchter Wilfried Hohnberger und ihr eigener Vater, Hans Buchmann, hatten zusammen mit dem Jäger Emil Brandt eine Jagdgemeinschaft betrieben und waren mit gerichteten Hunden und einer Portion Schießwut alle paar Wochen, je nach Saison, auf die Pirsch gegangen. Aki und Ignaz hassten es, dass ihr Vater diesem mordlüsternen Zeitvertreib nachging, und von der Beute hatte er nie etwas abbekommen. Das wurde unter den Obrigen verteilt, der Rest wurde verkauft – auch von diesem Erlös blieb ihr Vater unbedacht. Als die jägerische
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