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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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Verwendung. Roberts überschüssige Feder wurde von Gila mit geschickter Hand und heißer Stricknadel perfekt geglättet. Da Henry als Botschafter schon einige verstohlene Augen auf König Michls Briefe gerichtet hatte, konnte er sein Signum leicht kopieren. So hielt er nun die »offizielle« Antwort in der Hand — und in der Tat: Der Streifzug gegen die Länder blieb aus, Pantam blieb von den Rückwärtsmenschen unentdeckt. Kein Fortschritt im Sinne einer Völkerverständigung, jedoch die Rettung eines Volkes durch geschicktes und selbstloses Handeln. Und der Beginn einer innigen Freundschaft. Henry zog alle Jahre über den Gebirgsstrudel gen Pantam. Die Familie Bantumi hatte er sehr liebgewonnen. Walter war zu seinem besten Freund geworden. Nur wurde er älter und Walter jünger. Oder umgekehrt.
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    Ignaz blies den Kohlestaub, den der Bleistift, der wie eine Stricknadel die Worte auf Papier fädelte, hinterließ, vom Blatt. Eine kraftspendende Auszeit.
    »Eine lange Geschichte«, murmelte er. »Rückwärtsmenschen. Das sind wir.«
    Ignaz dachte bei sich, wie unlogisch und wenig weitsichtig, wie niederträchtig und dumm die heutige Menschheit doch war. Teile von ihr. Einzelne. Aber diesen Einzelnen folgt eine Vielzahl. Eine Masse. Das ist der Wahn der Überzeugung. Einer schreit »Kampf«, sogar »Mein Kampf«, und alle schreien »Hurra«! Ihm wurde übel.
    Er wollte nun auf alle Fälle eines. Überleben. Er musste zurück zur Mauer. Er musste darüber. Er musste Raffael Krupp finden. Schließlich wollte er seinen Plan vollenden. Sein selbstverfasstes Buch in den Händen halten.
    Nervös saß er an einem Küchentisch, dessen Besitzer ihn von einem braunen Foto anstarrte, das in einem einfachen Holzrahmen an der Wand befestigt war. Er glaubte, dass es seine Besitzer waren, eine Familie, vier Erwachsene und vier Kinder. Glücklich. Damals. Und jetzt? Im Jetzt?
    »Danke für den Tisch. Und den Zucker.« Er wedelte mit den Blättern seiner Geschichte, als wolle er der Familie zuwinken. In einer Schublade, in der normalerweise Besteck und Küchenutensilien aufbewahrt wurden, fand er im hinteren Eck ein hartes, aber noch nicht fauliges Stück Brot. Nahrung. Einteilen, schoss es Ignaz durch den Kopf.
    »Scheiß drauf. Essen!« Er würgte den zähen Kanten mühsam hinunter.
    Tatsächlich entdeckte er in der gleichen Schublade einen Kohlestift, den er in seinen Sack gleiten ließ. Schreibutensilien und Atemluft sind seine kostbarsten Güter. Er griff nach dem Lichtbild eines traurig schmollenden Mädchens, das er auch auf dem Familienfoto ausmachte. Was mag mit diesem Mädchen geschehen sein? Wo ist es nun? Er nahm das Bild an sich. Es gefiel ihm. Weil ihn das Mädchen an die rußhaarige Klara aus seiner Heimat erinnerte. Auf dem Küchenbuffet fiel ihm ein roter Kasten ins Auge. Vielmehr eine Schachtel. Aus Blech. Sie war leer. Der Deckel war mit einfachen, goldenen Ornamenten verziert. Geschlossen hätte man die Schachtel durchaus für ein großes, dickes Buch halten können. Etwa 20 auf 30 Zentimeter. Er legte den soeben gefundenen Bleistift, das Foto und sein Heiligtum, seine Schreibbücher, hinein. Zwei Bücher im Buch. Eine Hülle für seine verfassten Kunstwerke. Ein Schutzschild. Die Schachtel glitt in den Transportsack.
    Wieder ein Raub.
    Diebstahl gehörte zu seinem Geschäft, war hilfreich, aber weniger schädlich als Gewalt. Ignaz verlor an diese kleinkriminellen Machenschaften längst keine Gedanken mehr.
    »Danke auch für den Bleistift. Die nächste Geschichte widme ich dir, kleines, liebes Mädchen.«

    Das Mädchen hinter den Büchern
    Ignaz befand, dass er diese gastfreundliche Herberge durchaus durch die Wohnungstür verlassen sollte. Im von häuslichen Gegenständen gesäumten Flur passierte er ein Zimmer, dessen dunkelrote Tapete ihn magisch anzog. Er trat durch die geöffnete Tür. Der Duft stieg ihm gleich in die Nase, mechanisch drehte er den Kopf nach rechts, wo er eine farbig fleckige Wand erspähte.
    »Mein Gott.«
    Ignaz’ Herz kitzelte ihn am Gaumen.
    Er stand vor einer kleinen, aber erhabenen Bibliothek mit einem Ausmaß von zwei auf zweieinhalb Metern. Ein spartanisches Holzregal, aber mit vielen Büchern darin. Sein Verstand schlug Kapriolen.
    Zauberhaft. Einem Wunder gleich.
    Fieberhaft überflog er die Titel der Werke.
    Er strich behutsam über die Buchrücken, als wären sie empfindliche, organische Wesen. Ist das hier Krupps Zuhause? Wohl kaum. Aber wessen

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