Grimms Erben
hören Sie endlich auf damit. Sind Sie bescheuert?«
Der gab kichernd von sich: »Vorwärts, Nusser, du Nuss. Hahaha. Vorwärts, gehen wir. Los!«
Nusser kochte vor Wut, dem besoffenen Schwein musste endlich Einhalt geboten werden. Der ließ sich nicht beirren.
»Nusser, marschieren. Pro deportierten Juden hundert Meter, los, Nusser, vielleicht bekommst du noch einen Marathon zusammen.«
Wieder stach der Lauf des Gewehrs in Nussers Seite. Sauckel platzte vor Amüsement, als plötzlich in fünfzehn Metern Entfernung einige Koffer zu Boden polterten und eine Person galant hinter diesem Gepolter hervorsprang. Sauckel erschrak trotz seines Wodkakonsums und trotz seiner Heiterkeit dermaßen, dass er Nusser in den Brustkorb ballerte. Es war Ignaz Buchmanns verspäteter Startschuss. Trotz offenbarem Fehlstart nahm Ignaz Reißaus und befahl seinen müden Muskeln zu laufen, laufen, laufen – in Herrgotts Namen.
Sauckel stand über dem toten Nusser und befahl weiter in delirösem Zustand: »Los. Steh auf. Nusser. Vorwärts… steh auf.«
»Ich schaffe es!«
Noch hundert Meter bis zur Mauer, die Ignaz Buchmann ins Visier nehmen konnte. Ein Schutzengel hatte ihm einen Berg voller Kisten an der Mauer abgestellt.
»Das schaffe ich!«
Noch siebzig Meter. Die Lunge brannte wie ein Brennnesselbusch. Er müsste tiefer atmen.
Plötzlich tauchten hinter ihm die Wölfe auf. Graue und braune Pelze, die ihm zähnefletschend zubrüllten. Stinkende Tiere, geifernd, gnadenlos. Sie hetzten ihn Richtung Mauer, die näher kam.
»Ich schaffe es!«
Noch vierzig Meter, noch fünfunddreißig. Es würde klappen. Die Wölfe verringerten die Distanz, aber es würde klappen. Ignaz würde es schaffen. Noch zwanzig Meter. Die Mauer baute sich vor ihm auf. Im Geiste setzte er die Trittfolge auf dem Kistenstapel fest. Arrrrrrrgh.
Die Wölfe hatte er abgehängt. Ignaz hatte aber nicht mit dem Bären gerechnet, der ihn seitlich rammte und zu Boden hämmerte.
Rein schlachtstrategisch ein böser Fauxpas von Ignaz, die Flanken zu missachten.
Es vergingen einige Sekunden, bis er den Aufprall körperlich verarbeitete, geistig war er über der Mauer. Nun war er umgeben von vier uniformierten Männern, darunter auch der Bär.
Ignaz’ Herz rotierte, und sein Lungenapparat betrieb Höchstleistung. Dennoch presste er ein »Hi Hitler« heraus, sein rechter Zeige- und Mittelfinger formten zwei Eselsohren, die sich den Soldaten entgegenreckten. Eine Geste aufmüpfiger Inbrunst.
Als Antwort bekam er einen gestiefelten Tritt ins Gesicht, der ihn kurz mit Ohnmacht überzog. Er wurde an pelzigen Ellbogen hochgerissen. Ignaz kam zu sich. Er blickte dem Bären ins Gesicht. Schwer und träge presste er folgende zwei Sätze aus seiner tauben Kehle.
»Mein Name ist Ignaz Buchmann. Ich bin Deutscher aus der Nähe von München.«
»Und wir sind die vier Musketiere. Du hast Pech gehabt, Deutscher aus der Nähe von München. Hast es lange hier ausgehalten. Jetzt wird erst einmal geduscht.« Großes Gelächter in der Runde der Uniformierten.
Klaus Sauckel betrat die Viererrunde, relativ nüchtern.
»Der Drecksjude hat Nusser umgebracht.«
Ignaz starb vor Angst. Seine Reise hatte hier ein Ende.
Dann kam ein Wort: Drecksjude.
Dann kam der Gewehrkolben.
Dann kam die Dunkelheit.
Als Ignaz Buchmann sein Bewusstsein wiedererlangte, lag er schon wieder auf der Erde. Von der Ladefläche eines Lastwagens wurde er in den Staub gestoßen. Als er auf dem harten Boden aufschlug, wachte er wieder auf. Nicht komplett. Der Körper ein einziger Taubheitszustand. Metallgeschmack auf der pelzig trockenen, geschwollenen Zunge. Das trübe Augenlicht war rot gefärbt. Wie Abendrot lag es auf der Pupille. Das Herz gebrochen. Sein Wille ebenso. Man hatte ihm zugesetzt, untertrieben gesagt. Er lag im Dreck. Einem Toten gleich – ihm war alles egal. Er fand weder einen Willen noch eine brauchbare Erinnerung. Wölfe schlichen um ihn herum. Abgemagerte Männer in gestreiften Sträflingsanzügen wurden offenbar von grauen und braunen Filzmantelträgern mit umgehängten Gewehren bewacht. Seltsame Gefangene. Alles kreiste um Ignaz’ Blickfeld. Aus seinem Ohr trat ein Rinnsal dunkles Blut. Er hatte Atemnot und Probleme, die Augen zu öffnen. Ein Bär gab ihm einen Tritt, den er schmerzlos spürte. In weiter Entfernung vernahm er Stimmen und Gelächter. Sein Kopf fühlte sich wie ein geblähter, unförmiger Ballon an. In sein rotgefärbtes Blickfeld traten seltsame Dinge. Kaninchen mit
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