Grimms Erben
Aberdeen eine bayrische Variante zur Seite stellen. Auf Burg Wolfenstein zu Freyung entstand sein Werk voller mystischer Geschöpfe aus den Untiefen des Böhmer- und Bayerwaldes. Der zwischen 1876 und 1889 in Grainet lebende Maler Gottlieb Prammer illustrierte einige der phantastischen Sequenzen. Wort und Bild ergaben ein meisterhaftes Gesamtwerk. Sehr erfolgreich. Sehr düster, märchenhaft, apokalyptisch und doch mystisch, fabelhaft, moralisch.
Das letzte extravagante Überbleibsel des Schering-Verlages, der dieses Buch als einzige Verlagsfahne in den Bücherhimmel reckt. Die Fahne bindet August Locher. Die hundert bunt und wild illustrierten Seiten werden auf kunstvolle und traditionelle Weise zusammengefügt. Ein fast schon musealer Akt. Eine Meisterhaftigkeit, gepflegt und bewahrt von August und ausgeübt in der Abteilung vier, genauer, in einem Blechschuppen, einem Raum im Raum quasi, in dem er alleiniger Herr und Meister über die Produktion dieses altehrwürdigen Buches ist. Es ist ein gekonntes Hantieren mit Material und Buchblockbilden, Ableimen, Beschneiden, Runden, Abpressen, Hinterkleben, Verzieren. Ergibt: Das »Bestiarium von Freyung«.
Eingeführt wurde August als sechzehnjähriger Auszubildender von Zacharias. Dieser wiederum von einem Mann namens Hans Heiner Vogt. Dieser von einem Mann namens Rudolph Kappelmeier. Und dieser wieder von einem anderen, der es von einem anderen erlernt bekam.
Schon Zacharias betrieb diese Manufaktur in der Fabrik. Nur beschäftigt mit dem Binden dieses einen Buches. Der Wirkungskreis im Wellblechbestiariumkabuff beginnt bei der Bearbeitung der Rohbögen und endet mit der Finalisierung des Einbandes, samt der kunstvollen Verzierung der ledernen Buchdecke durch Blindprägung und Vergoldung, die das Bestiarium zu einem bibliophilen Glanzstück machen. Auf der Front des Buches thront ein erhabener roter Hirsch mit einem goldenen zwanzigendigen Geweih. Ein Säufer, wer jetzt an ein Kräuterlikörprodukt aus Wolfenbüttel denkt.
Das Blechhüttchen, in das man durch ein großes Plexiglasfenster Einblick bekommt, ist dem Rest der Fabrikarbeiter ein Dorn im Auge. August ist es egal. In seiner Blechhütte scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Eine altertümliche, fast schon antiquierte Atmosphäre herrscht in dem mit allerlei Werkzeug behangenen, von Papierschnipseln überzogenen, von Kleisterbüchsen, Blattgoldschachteln und anderen Behältnissen zugestellten Raum. Der Geruch pendelt zwischen würzigem Papieraroma, scharfem Kleisterdampf und einer märchenhaften Note, die deutlich vermittelt: Hier entsteht ein zauberhaftes Werk.
»Hat der alte Hexenmeister sich doch einmal wegbegeben, und nun sollen seine Geister in erster Linie nach seinem, aber auch ein wenig nach meinem Willen leben!« Augusts Goethisierung seines Tuns nach Zacharias’Verschwinden ist nicht druckreif, aber Fakt ist, mittlerweile ist er selbst Hexenmeister. In seinem eigenen Labor.
Ein Dompteur, der das Fauchen, Brüllen, Pfeifen, Zähnefletschen und Aufbegehren der Fabeltiere mit Hammerschlägen bändigt und in einem Papierkäfig, zwischen zwei dicken, ledernen Gitterstäben, gefangen hält.
In der Abteilung vier der Papierfabrik Schering lagert stapelweise Papier. Bögen, frisch, duftend, warm und pulsierend, die in Kürze oder Länge bedruckt werden.
Je nach Dicke und Beschaffenheit zu Büchern, Zeitungen oder Magazinen mit Hilfe von Digitaldruck, Bodenoffsetdruck oder Rollenoffsetdruck.
Hier brodeln Geschichten. Der Materialträger der Autoren liegt jungfräulich im Gebinde. Kurz vor dem Startschuss, in die Welt der Erzählungen entlassen zu werden. Locher weiß es zu schätzen, dass die Schering-Fabrik keine bürokratische Drucksachen oder sonstige fachliche, sachliche Kopien in Auftrag nimmt. Auch für die restlichen weißen, unschuldigen Papierschnitte dieser Welt, außerhalb der Druckerei Schering, will er das nicht annehmen. Für ihn steht auf einem leeren Blatt ein noch nicht erzähltes Abenteuer. Ein leerer Bogen Papier ist für ihn wie ein gemachtes Bett. Bereit, darin einzutauchen und zu träumen. Milliarden potentielle Bücher sieht er in den Industriehallen aufgestapelt. Episoden, Chroniken und Dichtungen. Prosa und Lyrik.
Locher liebt Papier. Mehr noch. Sein fanatisches Ansinnen nimmt kuriose Ausmaße an. In unbeobachteten Momenten, in denen er sich alleine in der Halle wähnt, nimmt er Kontakt auf. Tuchfühlung mit dem Material. Er streicht mit seinen Handflächen über das
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