Grimms Erben
wenn durch Druck von etwa 1,65 Kilogramm das Kernobst einen Fingernagelabdruck hinterlässt.
Der leicht austretende Saft ist eine ideale Pflege
für die Haut des Nagelbetts.
Eine typische Locher-Theorie.
Abwesend steckt er den Apfel, den er später an der Kasse käuflich erwerben will, in seinen Parka. Beim Aufstehen stößt er mit seinem Gesäß gegen die Wand mit den Frühstückszerealien. Zwei Packungen Haferflocken und eine amerikanische Neuheit im Metier Cornflakes verlieren den Halt und fallen.
»Gehen Sie, bitte gehen Sie, oder?«, drängt die Frau und drückt ihn energisch weiter. Er blickt nervös zur Kasse. »Ui, tatsächlich«, kommt es ihm wieder aus. »Frau Cernak.«
»Ja, die werde ich gleich holen, falls Sie nicht mit Ihrem Elefantengehabe aufhören, oder?«
Holen, o ja.
»Eine Frage noch.« August legt seinen Kopf schief. »Eigentlich habe ich es sehr eilig. Aber was mich interessiert, wieso >odern< Sie immer am Ende eines jeden Satzes?«
»Frau Ceeeeernak!«
August trippelt davon. Am Fleischwarenkühlregal krallt er sich einen Ring Lyoner. Nahrhaftes Phosphat. Eine Flasche Karamalz wird neben das abgepackte Bauernbrot gestopft. Alles in die Ziegenhaarumhängetasche, die ihn, seit er denken kann, begleitet. Er benützt weder Wagen noch Korb, wenn er im Supermarkt Besorgungen macht. Er transportiert seine unbezahlten Waren in der Ziegentasche, die er an der Kasse leert, bezahlt und wieder füllt. Beschwert hat sich darüber noch niemand, gestohlen hat er ja noch nichts. Aber Blicke erntet der haarige Beutel, und was für welche. Es ist kein Schmuckstück, mit Verlaub, es sieht aus wie ein überfahrener Gamsbock.
Locher ist es egal, dieser Weg ist pragmatisch, weil er sich das Schleppen eines weiteren Gegenstandes, Korb oder Wagen, erspart.
Ein Stückchen extremer Spitzbub gleitet in die ausgehöhlte Ziege. Der Käse ist Lochers Lieblingsspeise. Allerdings sorgt die Käsespezialität oft für soziale Dysbalancen in der Papierfabrik, da das gute Stück einen enorm hohen Anteil an Gestanksmerkmalen besitzt. Ein Spitzbub kann es mit einer Stinkbombe der Stärke vier leicht aufnehmen.
Ärmere Länder, welche sich Uran nicht leisten können, versuchten einmal bei Prototypen von Atomraketen die Sprengköpfe mit Spitzbubkäse zu füllen. Vergeblich, aber der Vergleich mit den gefährlichen Waffen hinkt nicht. Es ist bestialisch. Locher wertet den Kauf des Käses als Beleg seiner Freiheit, sich sein Essen in dem Maße zusammenzustellen, wie er es für delikat hält.
Seine Arbeitskollegen werten den Verzehr des Käses als Beleg seiner Gefangenschaft, weil er sich dadurch in der Mittagspause weder in der Kantine noch in der Umkleidekabine aufhalten darf. Ihm wurde eine Abstellkammer als Esszimmer zugeteilt, solange er nicht von dieser Hiroshima-Fermentation absieht. In der Kantine schmeckt das Essen durch die Ausdünstungen des Käses nicht mehr nach Essen, sondern nach unglaublich häufig gebrauchten Turnschuhen. In der Umkleidekabine riechen die Schutz- und Arbeitsanzüge danach. Locher muss bei Ankunft in der Firma zuallererst seine Ziegenhaartasche in seinem »Esszimmer« verstauen, bevor er die Umkleide betreten darf. Und mittags ab ins »Fressexil«. So sind die Regeln. Er akzeptiert sie, weil er somit auch den Beleidigungen und Anmachsprüchen in der Mittagspause entrinnt. Und mit Hilfe einer kleinen Taschenlampe kann er dort ungestört ein Märchen vertilgen. Seine Liebe zu den Erzählungen hat ihn oft Häme, Schmäh und Schläge gekostet. Von phantasielosen Eklektikern. In der Besenkammer kann er seinem Hobby bei zu verzehrenden Deftigkeiten ungestört nachgehen. Der Geruch irritiert ihn nicht.
Aber Locher braucht dieses Stück Käse und nennt es »mein Gold«.
Lyoner, »mein Gold«, Bauernbrot, Karamalz.
Das war schon immer sein Mittagessen bei der Arbeit. Das Menü wechselt selten. Es könnte auch mal Folgendes sein:
Kaminwurz, Gouda, Breze, Zitronenlimo.
Fleischsalat, Emmentaler, Kornspitz, Orangensaft.
Hirschsalami, Tilsiter, Powerlaiberl, Spezi.
Aber eigentlich bleibt er stets bei Lyoner, Atomwaffe, Bauernbrot, Karamalz. Hier und da mal ein Utensil aus der Obstkiste.
Hurtig jetzt. Hurtig zur Kasse, an der Frau Cernak sitzt. Frau Cernak – eine Blüte.
Seit vielen Jahren verköstigt sich August Locher in diesem Supermarkt. Der zeigt sich mit seinen ständig wechselnden Mitarbeitern mal mehr und mal weniger von seiner gastfreundschaftlichen Seite. Im Grunde eher weniger. So wie
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