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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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unschuldige Pergament. In gebückter Haltung platziert er seine Nase auf die Oberfläche von Papier, schnüffelt, riecht, inhaliert. Er saugt es auf. Mit dem Duft die möglichen Gleichnisse und Mären, die es einmal tragen wird.
    Gerade heute verharrt er einen Moment, entschließt sich kurz zu einer kleinen Inhalation des Duftes eines vor seinem Kabäuschen geparkten Papierblocks, bedruckte Bögen fürs Bestiarium. Sie wissen, so wie manche nach dem Essen Espresso trinken oder eine Zigarette rauchen. Seine Karamalzflasche, die er gerade voller Vorfreude geöffnet hat, stellt er vorsichtig auf die Bögen ab. Er kniet nieder.
    Saug es auf! Saug alles auf! Nur kurz.
    Er vergisst die Zeit und beginnt zu illusionieren. Mit der Nase auf dem Papier. Unbeobachtet, denkt er. Durch die Fabrikfenster strahlt die Sonne, wirft regelrecht einen Spot auf Locher, der dort ruhend einem religiösen Bildnis gleicht. Staubpartikel tänzeln im Sonnenlicht. Es sieht aus, als falle Schnee auf das Bildnis.
    »Der fickt Papier!«, schreit es aus einem Durchgang, der zur Halle führt. Locher schnalzt hoch, taumelt von den Paketen weg. Oh, nein. Panzer. Ihm wird schwindlig.
    »Seht euch das an.« Panzer winkt deutlich amüsiert einen Teil der Mannschaft aus der Abteilung vier herbei, die neugierig angekrochen kommt. Er versetzt der Karamalzflasche einen leichten Stoß. Die braune, klebrige Flüssigkeit ergießt sich über die wertvollen BestariumBögen. In Lochers spitzem Schrei liegt Verzweiflung.
    »Locher, der versaute Kerl! Hat Sex auf den fertigen Drucken und verschüttet dabei auch noch seinen Liebessaft.«
    Für diesen Stehkneipenhumor erntet der Staplerfahrer schallendes Gelächter.
    Locher, erst sprachlos ob der unverfrorenen Lügen dieses widerwärtigen Individuums, verteidigt sich nun doch.
    »Das warst du, Panzer.«
    Seien wir ehrlich, das ist keine überzeugende Verbaloffensive. Eher eine kindliche »Aber-du«-Argumentation.
    Der Abteilungschef Hans Berger tritt hinzu.
    »Was ist das hier? Schlägerei oder Volksversammlung oder will keiner mehr arbeiten oder wie?«
    Panzer ganz wichtig.
    »Der Locher liegt auf unserer Ware und pennt. Beschmutzt hat er sie auch. Der ist ein Perverser.«
    Mit dem Ellbogen stößt er den Mann neben ihm in die Rippen. Es ist Öner Cicek, der ein kurzes »Puh« ausstößt.
    »Der hat sein Getränk drübergekippt, während der auf den Bögen lag und mit ihnen gesprochen hat.«
    Wieder Gelächter. Von allen. Von Öner am lautesten. Sein dicker Oberlippenbart sträubt sich wie der Schwanz einer kampfbereiten Katze. Locher steht am Pranger.
    »Locher?«, fragt Berger eine Verteidigung abwartend.
    »Ich… Ich bin gestürzt.« Locher weiß, die Wahrheit kann ihn nicht retten, denn sie wird gerade von einem Haufen Verschwörern neu geschrieben.
    »Der hat darauf gelegen, Chef.« Panzer macht sich breit.
    »Der hat, wenn Sie mich fragen, da Sex gemacht. Mit dem Papier.«
    Großes Amüsement.
    Locher steht da, nicht bereit, sich zu wehren. Zu eingeschüchtert und verstört. Ein Bündel Elend. Nicht zum ersten Mal in seiner Karriere als Buchbinder in dieser von niveaulosen, nicht belesenen Hilfsarbeitern durchtränkten Druckerei.
    »Locher«, wieder Berger, »was geht in dir vor? Hast du irgendwelche Probleme? Weißt du, was das kostet? Wenn es nach mir ginge, würde deine Buchbinderkarriere schon längst beendet sein, aber die Scherings wollen es ja nicht anders. Das nun unbrauchbare Material werde ich dir vom Lohn abziehen.«
    Panzer lacht.
    Lochers letzter Versuch startet so: »Ich habe doch gar nicht…«
    Berger: »Alles hin. Alles kaputt. Was hast du denn da überhaupt gemacht?«
    Locher wird von einem Anflug von Ehrlichkeit übermannt.
    »Es ist schön, da zu liegen.«
    Fragende Gesichter. Große Augen blicken in erstaunte Münder.
    »Wie bitte?«
    »Papier ist eine Schönheit. Es ist schön, darauf zu liegen«, stottert er in Erwartung, dass gleich die Welt untergehen wird.
    »Sag mal, hast du sie noch alle. Du liegst auf Papier, weil Papier schön ist?« Berger deutet auf die Stapel.
    »Der ist ein Irrer«, brüllt Panzer dazwischen. »Ein Irrer!« Andere trauen sich nun auch. Locher vernimmt ein »Trottel« und »Arschlocher«.
    »Papier schreibt Geschichten. Ist selbst Dichtung. Grimm, Hauff, Ringelnatz, alle. Papier ist Märchen.«
    »Märchenprinz« und »Vollidiot« steigt es nun aus dem Pulk von schnatternden, lachenden Köpfen auf.
    »Papierficker!«, kreischt Panzer triumphierend.
    »Locher«,

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