Grimms Erben
betritt seinen Garten, Rettig trippelt ihm hinterher. Vor dem Gartentor liegt wieder wurstförmiger Kot von Dr. Malangrés Hund.
»Wie heißt das?«, will Locher wissen. Das Beisein von Karl ermutigt ihn zum Gegenangriff.
»Dalli dalli«, frotzelt der Junge mit gebleckten Zähnen.
Locher lässt den Pfeil in den Nachbarsgrund zurücksegeln. »Und bitte hör auf, dem Baum weh zu tun.«
»Geht dich doch nix an, du Vollspast.« Der überaus hassenswerte Junge geht nun über, ganze Nadelzweige abzuschneiden. Naturvandale.
Kopfschüttelnd geht Locher mit Rettig zur Hütte. Immerhin wartet keine von der Kowalski hinkomplimentierte Polizei vor seinem Haus, die nach dem Rechten sehen muss. Die Besuche des Jugendamts bleiben Gott sei Dank seit seinem achtzehnten Lebensjahr aus. Wenigstens das.
August sperrt mühselig die Pforte zu den Büchern auf. Sie treten ein.
»Kennst du ›Die unendliche Geschichte‹? Kennst du Ende?« In der linken Hand balanciert Locher das Buch und lässt es vor Karls Augen tanzen.
»Wussten Sie schon, dass in jedem Ende ein Anfang innewohnt.«
»Oder willst du etwas anderes hören?«, fragt Locher den Fragenmann.
Der streicht über die Holzplanken, auf denen sie sitzen. Inniglich berührt er die provisorische Sitzgelegenheit, die Zacharias Locher vor Ewigkeiten zusammenzimmerte. Breite, herbe Balken.
»Wussten Sie schon, dass aus Bäumen Papier hergestellt wird, auf das man Millionen wundervolle Geschichten schreiben kann?«
Locher schenkt ihm ein durchdrungenes Lächeln. Er greift dann doch zu einem verstaubten alten Band, in dem griechische Sagen wüten. Leider fallen ihm weitere Schmöker vom oberen Regal. Einer findet sein Ziel in Lochers Gesicht. »Grimm und Ingrimm«, schimpft er. Nachdem er die Bücher zurückgestellt hat, beginnt er dem wippenden Fragenmann vorzulesen. Aus Gustav Schwabs »Die schönsten Sagen des klassischen Altertums«.
Äxte treffen auf Schilder, Intrigen auf Liebesaffären. Helden treffen weise Entscheidungen, Philosophen voll ins Schwarze. Mythologien der Antike flirren durch den Raum, haften anschließend in den Ecken des Schuppens, in dem August Locher von seinem Großvater schon unterhalten wurde. Tag und Nacht.
Abertausende Male saßen sie da bei Kerzenlicht. Der Mond schüttelte eine weiche, helle Decke über die Hütte, das kleine Fensterchen gewährte einem hellen Streifen des fahlen Lichts Einlass. Sterntaler trommelten auf das Holzdach, oft waren es auch nur Regentropfen. An heißen Sommertagen herrschten Temperaturen jenseits einer finnischen Sauna, an denen sie nur in Unterhosen (und Parka: August) erzählten oder horchten, um einen Hitzschlag zu vermeiden. Der beißende Winter konnte sie ebenso wenig davon abhalten, hier ihre lyrischen Sitzungen abzuhalten. Aus Jacken und Wollschals bliesen sie ihre dampfenden Worte, die Türme bauten, auf denen Fahnen wehten. Wehende Wortfahnen. Zacharias Locher war der Fahnenschwenker. Seine Zirkulationen schwebten von seinem Mund in Augusts Ohr und kreierten dort einen literarischen Fluss an Bedeutungen. Er verfügte über eine großartige Bandbreite an Modulation. Er wechselte bei seinen Reden zwischen harten und weichen Klangfarben hin und her und strickte kunstvoll angelegte Kleider aus Worten, die blumig rochen und wohlig wärmten. Er zauberte mit poetischen Tricks aus dem Stegreif oder bediente sich an den Ausführungen anderer Wortakrobaten.
Er verblüffte August in dem Maße, dass dieser das Gesagte wie Honig ins Ohr fließen ließ und nicht selten dabei vor Glück sabberte. Dann strich ihm Großvater unsanft über den Mund, fast einer Schelle gleich, und schreckte ihn aus seiner konzentrierten Fabellethargie. Zacharias zeigte sich leicht beschämt ob seines in diesem würdelosen Zustand befindlichen Enkels, aber hätte er nicht so verzaubernde Geschichten erzählt, wäre August auch nicht das Wasser aus dem Mund gelaufen. So einfach ist das.
73 Minuten spitzt Karl Rettig nun schon die Ohren. Aus seinem Mund schlängelt sich ein Rinnsal an Speichel nach unten. Ob er etwas von dem ganzen Zeug versteht, weiß August Locher nicht. Aber er, Locher, fühlt sich verstanden.
»Kreusa hatte am Altar Apolls die Früchte ihrer verzweifelten Tat erwartet. Diese aber keimten ganz anders auf, als sie vermutet hatte. Ein Tosen aus der Ferne schreckte sie aus ihrer Versunkenheit auf…«
»Wussten Sie schon«, unterbrach Rettig plötzlich, »dass Äthiopier Hunger leiden, wenn sie nichts zu essen bekommen, und
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