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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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mich. Da gibt es keine zwei Meinungen!«
    Zielsicher steuert er sein Rad in einen Fahrradständer im Vorhof der Papierfabrik. So zielsicher, wie Amors Pfeil die Herzen trifft.

    Die Phantasiefabrik
    »Guten Morgen, heute ist ein guter Tag!« Locher schwingt sich leichtfüßig in die Umkleide seiner Abteilung vier der Druckerei C.H.Schering. Mit Cernaks Apfel in der Tasche hat er moralisches Oberwasser.
    »Halt’s Maul.« Das ist Panzer, der so freundlich den Arbeitsbeginn einleitet.
    »Locher, wenn du heute nicht das Maul hältst…«, droht der Mann, der den Gabelstapler fährt. »Maul halten, okay?«
    August Locher zuckt eingeschüchtert mit den Schultern. Er schraubt sich vorsichtig in seinen Arbeitskittel. Und dennoch schlägt er Franz Groß mit dem Ärmel ins Gesicht, ohne dass er es selbst bemerkt. Der antwortet prompt mit einer Topspin gezogenen Hinterkopfohrfeige. Die übrigen Mitarbeiter glotzen mürrisch oder grinsen süffisant vor sich hin. Nur Panzer nicht. Der zieht ebenfalls durch und touchiert Lochers Kopf schmerzhaft.
    Panzer ist Lochers Damoklesschwert. Irgendwann fällt es. Wenn es so weit ist, will Locher nicht Locher sein, oder am besten – Locher ist dann gar nicht da.
    Panzer fährt den Stapler und kommandiert wie ein Feldwebel. Er ist aber keiner. Ein Vorarbeiter ist er auch nicht. Panzer ist ein Säufer und Schläger. Er verfügt über Bärenkräfte. Manche behaupten, er kann einen Schraubenschlüssel wie Kaugummi verknoten. Panzer heißt nicht so, weil er im Wehrdienst diese camouflagierten Kettenfahrzeuge geführt hat. Auch der Gabelstaplerberuf drängt ihm diesen Namen nicht auf. Es ist wie folgt:
    Panzer hat eine Tätowierung. Einen Panzer, richtig. Am Oberarm? Auf dem Rücken? Am Unterarm? Hören Sie sich das an.
    Es prangt ein Panzer aus Tinte auf seinem Unterbauch, quasi im Zentrum seiner Lende. Knapp über seinem Geschlechtsteil. Das Kanonenrohr? Das Geschlechtsteil.
    »Volles Rohr!« und »Deckung! Feuer!«, soll Panzer seinen Gespielinnen in der Bar Eden immer zurufen. Das hat Locher erfahren, als er Martin und Breitner, die beiden Folienarbeiter, bei einem angeregten Gespräch belauschte.
    Panzer ist gefährlich. Ein Monster. Ein Ungeheuer. Ein Drache. Ein am Sack tätowierter Tyrann. Der Antichrist. Martin und Breitner meinten vor kurzem, er will sich noch ein Mündungsfeuer auf die Eichel tätowieren lassen. Locher wünscht ihm einen Rohrkrepierer.
    Infame Beleidigungen, irreversible Beschimpfungen, intrigante Beschuldigungen und immense Bedrohungen stehen auf Lochers Tagesordnung. Hinter Panzer steht der Rest der Abteilung und lacht zustimmend. Panzer ist Lochers Damoklesschwert. Irgendwann fällt es.
    Aber auch Locher ist gepanzert. Gepanzert mit einer stählernen Würde erträgt er die tagtägliche Schmach. Locher will nur arbeiten. Vor allem will er in der Nähe von Papier sein.
    Papier. Rein und weiß. Träger von Phantasien. Heimat von Buchstaben.
    Ein aus Holz gewonnenes Vorprodukt von Büchern. Deswegen spricht Locher mit den Bäumen. Für ihn ist der Anblick eines leeren Blatt Papiers wie für einen Kunstkenner der Blick auf ein stilvolles Gemälde. Wie für einen Gusteau eine schmackhafte Gaumenfreude. Wie für einen Manchester-City-Fan eine Niederlage von United. Locher ist kein Sportfreund – ganz im Gegenteil. Er verabscheut körperliche Ertüchtigung zur Vertreibung von Langeweile. Radfahren außen vor. Das tut er gern und kann er gut.
    Papier ist ihm heilig. Papier ist sein Sauerstoff. Die Druckerei sein Sauerstoffzelt. Das Unternehmen C.H. Schering darf sich durchaus einer bemerkenswerten Größe erfreuen. Hundertzwanzig Mitarbeiter: Fachinformatiker, Industriekaufmänner, Mediengestalter, Drucker, Handlanger, Gehilfen, Gehilfeshilfen und ein Buchbinder. Der Buchbinder ist August Locher. Als filigraner Papierkünstler ist August verantwortlich für das handwerkliche Relikt aus der Historie C.H. Scherings. Obwohl die Chronik der Druckerei seit 1793 stets von fachspezifischen Veränderungen im Maschinenpark zu berichten weiß und Berufe kommen und gehen, bleibt Lochers Reich eine Konstante.
    Im Mittelpunkt seiner Arbeit das Binden des »Bestiariums von Freyung«.
    Ein im 19. Jahrhundert entstandenes modernes Bestiarium von Hannes von Lautenbrück, einem Passauer Lyriker. Das »Bestiarium von Freyung« ist eine Aufzählung der Fabeltiere des bayrischen Waldes und deren wundersamen Eigenschaften. Von Lautenbrück wollte den großen Bestiarien von Rochester oder

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