Grimms Erben
es August von seiner Umwelt gewohnt ist.
Frau Cernak ist da eine Ausnahme. Seit fünf Jahren schon. Aus ihrem wohlgeformten Mund schweben tagtäglich folgende rosige Wörter.
»Morn, Loha.«
Süßlich vibrieren die Vokabeln in Lochers Ohr. Niemand wünscht ihm einen guten Morgen, niemand nennt ihn beim Namen. Frau Cernak tut das.
Sie zieht seine Waren besonders gefühlvoll über den Scanner. Schmeißt sie behände und rücksichtsvoll in den Auffangbereich des Rollbands. Meist fallen vom Obst Blätter ab, der Käse bekommt Dellen oder Joghurtbecher reißen auf. Schlechte Ware, denkt Locher.
»Fünf dreiundzwanzig«, lautet heute der zweite Satz. Himmlisch, diese liebliche Wortwahl, als ob sie ihm ihre Telefonnummer diktiere. Locher fuchtelt die Münzen nervös und zittrig aus seinem Papierkuvert, das seine Geldbörse darstellt, und lässt es sanft in ihre offene Hand gleiten. Da, eine Berührung. Eine Zusammenkunft. Locher schwitzt unter der Nase. Er nestelt an seiner Brille.
Sein linkes Bein zuckt. Er will etwas sagen, die körperliche Berührung verbal erwidern.
»Abr…« Sein Hals schnürt sich zu, Tag für Tag in diesem Moment der vertrauten Gemeinsamkeit. Zwischen Frau Cernak und Locher funkt es, da ist sich August sicher.
Die Kunst, wie ihre wasserstoffblonde Mähne hochgesteckt ist. Formvollendet wie ein Damenhut beim Pferderennen von Ascot. Locher will sie 24 Stunden am Tag kämmen. Ihr Zöpfe flechten! Einen Rapunzelzopf und an diesem in ihre Arme klettern.
Ihre braungebrannte Haut, die sie wie ein Piz-Buin-Modell erscheinen lässt. Locher will sie einölen. Mit Nussöl!
Ihre mit knallrotem Lippenstift nachgezeichneten vollen Lippen. Locher will sie küssen!
Ihre freundlichen Worte, die wenigen, die er im wahren Leben zu hören bekommt. Ihr heißer, nach Zigarettenrauch duftender Atem. Locher will ihn aufsaugen. Saug es auf!
Das Dekolleté, das einen aufregenden Einblick bietet. Zwei weiche, neben sich ruhende, braune Melonen. Gepresst, nicht gehängt. Locher will hineinhechten. Darin baden, sich darin suhlen. Er will das. Das am meisten. Vehement!
Ihre Hände, im Nagelstudio geformt. Ihre Haut, im Sonnenstudio gereift. Ihre Erscheinung, vom Himmel gesandt.
Das alles macht Frau Cernak zu einem Schmetterling, zu einem fünfzigjährigen, wunderhübschen Schmetterling.
»Auf Wiedersehen, Frau Cernak. Bis morgen«, kullert es dann doch aus Locher heraus. Die Worte prallen gegen die Haut der Kassenkraft und purzeln danach ungehört zu Boden. Frau Cernak ist meist schon bei der Verarbeitung des nächsten Kunden. Wenn keiner außer Locher da ist, tut sie so, als wäre sie unter der Kasse mit etwas enorm Wichtigem beschäftigt. Oder wie heute. Sie verlässt rapide die Kassenbox, um sich zu entfernen. Um sich wie eine Elfe zu entfernen, schwärmt Locher. Eine Prinzessin aus »Tausendundeiner Nacht«. Sagen wir Königin, das ist dem Alter angemessener. Oder eine F ee. Ach was, denkt sich Locher, ein zauberhaftes Wesen.
Aber immer kommt ihr dritter, letzter Satz, der duftend in seinem Ohr kitzelt.
»Bischan.«
Was wohl »Wiederschaun« heißen soll. Für unsereins ein fast unfreundliches Brummen. Für Locher die süßeste Verabschiedung, die ihm in seinem Leben zuteilwird.
Er liebt Frau Cernak, da gibt es keine zwei Meinungen.
Mit zwei Sätzen schwingt er sich auf sein Fahrrad. Zwei, weil er beim ersten mit seinem Hosenzwickel am Sattel hängen bleibt. Dann gibt er aber Sporen.
»Hurtig, mein Adler!«, ruft er.
Der Elektrikermeister Wehmayer, der diese Situation beobachtet, schüttelt den Kopf. Seine Zigarre glimmt zornig, wie das aufflackernde Signal eines verärgerten Leuchtturms.
In der Swinegelallee bemerkt August einen reibenden Gegenstand in der Tasche seines Parkas. Er greift danach und zieht einen blinkenden Apfel heraus. Amors Apfel! Elektrische Blitze durchzucken seinen Körper. Nadeln der Weichheit. Locher kann einen Sturz in letzter Millisekunde durch gekonnte Ausgleichsbewegungen verhindern.
Er hebt den Arm auf Augenhöhe und betrachtet das Stück Obst, das im Paradies schon für Aufruhr sorgte. Der Boskop aus Frau Cernaks Laden prangt nun wie ein Reichsapfel in Lochers Hand.
»Das ist ein Zeichen!«, brüllt er im Vorbeifahren ein Grüppchen älterer Großmütter an, die auf den 34er Bus warten. Sie schütteln ihre Fäuste und schwingen ihre Handtaschen.
»Das ist ein Zeichen – könnte man sagen!«
Das ist eigentlich Diebstahl – könnte man auch sagen.
»Frau Cernak mag
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