Grimms Erben
Rettig dem aus dem Gartentor eilenden Locher entgegen. Dabei deutet er auf den jungen Wolf, der am Basketballkreuz wimmert.
»Und wussten Sie schon, dass ein Teil eines Rechtssatzes aus dem Sefer ha-Berit, dem hebräischen Bundesbuch, Folgendes besagt: … du sollst geben Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn…«
»… Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme, ja, Karl, das weiß ich, ich weiß es nur zu gut.«
Karl: »Ja dann – auf geht’s! Weil wussten Sie schon, dass der hintere Teil der Hindenburg…«
Das hört Locher nicht mehr. Er enteilt dem Schallfeld des Fragenmanns, der den Satz zu Ende führt, welcher aber für diese Geschichte irrelevante Bedeutung hat. Vielmehr wäre wichtig zu beschreiben, dass zwanzig Minuten später ein Streifenwagen am Straßenrand der Tybbkestraße stoppt. Unter der blauen Plastikhaube dreht sich das Licht. Noteinsatz mit stummer Sirene? Ein rundlicher, schwitzender Polizist beugt sich aus dem Fenster und schreit in Richtung Karl Rettig:
»He! He, Doldi! Komm mal eben her.«
Rettig folgt, tritt ans Fenster von Oberwachtmeister Saller, der ungeduldig mit den Fingern auf das Blech der Autotür trommelt. Saller weiß ob Rettigs Beeinträchtigung. Offenbar erhofft er sich dennoch Auskunft in verwertbarem Maße. Handzeichen. Augenbewegungen. Ein Kopfnicken. Sonst würde er diesen vermeintlich aussichtslosen Versuch nicht starten.
»Hast du Locher gesehen? Den kennst du doch. August Locher, hm?«
Rettig gafft nur den Oberwachtmeister an. Vielmehr die dunklen Achselflecken auf dem braunen Hemd.
Wenn man gafft, spricht man nicht.
Eigentlich eine typische Locher-Theorie.
Er wiederholt sich. »Hast du August Locher gesehen? Hm? Locher?«
Und in der Annahme, man müsse bei einem Behinderten Sprachreduktion betreiben, formt er die Worte langsam, gewillt, sich selbst für einen Autisten verständlich auszudrücken.
»Du gesehen Locher, hm? Mann mit grünem Mantel, hm? Und Brille auf Kopf. A-U-G-U-S-T L-O-CH-E-R? Hier wohnen. Du gesehen?«
Der Fragenmann sieht dem Polizisten lange und unverwandt in die Augen. Anschließend deutet er auf den Wald, der, wenn man den Blick die Murnerstraße entlanggleiten lässt, saftig durch die Häuserreihen blitzt. Mit ausgestrecktem Zeigefinger gibt Karl Rettig, der Autist und Fragenmann, Antwort:
»Wussten Sie eigentlich, dass August Locher in dem Wäldchen da vorne eine kleine, illegale Jagdhütte besitzt? Ziemlich weit im Dickicht, fast schon beim Wendacher Wanderpfad, da wo ein Schild >Nach Weichselbach 2 Kilometer < anzeigt. Da sitzt er immer drin, malt Aktbilder von Füchsen und anderem Wildgetier in Öl. Ich hab es bei einem Spaziergang mal zufällig entdeckt. Ziemlich langer Fußmarsch von hier. Aber er wollte heute dorthin.«
Um zu verstärken, dass mit dem Wort »hin« seine Ausführung beendet ist, zuckt Karl Rettig mit den Schultern, subito klatscht er in die Hände und entfernt sich vom Wagen Richtung eigenes Zuhause. Dann schickt er beim sich Entfernen doch noch ein »Fuck off« Richtung Dienstwagen. Es war keine Frage, aber eine ernstgemeinte Antwort erntet er dafür trotzdem von Saller: »Gesundheit.«
Das Polizistengeschäft driftet oft in Routine ab. Die aufschlussreiche Information von Rettig nimmt er interessiert auf. Der Polizeifunk rauscht.
»Hört ihr? Ich fahr mit Brinkmann ins Galgenhölzchen. Ich check da einen Holzschuppen oder was auch immer. Müssen durch den Wald. Bitte ab nun auf dem Handy, falls was wäre. Over and out. Saller. Out.«
Das Blaulicht bleibt an, lässt kreisende Lichtkegel regnen. Noteinsatz? Irgendwie nein und irgendwie ja. Das Licht lässt Oberwachtmeister Saller immer rotieren. Als Untermauerung seiner Autorität als Schutzmann.
Für Heinrich Saller ist immer Noteinsatz. »Wichtig, wichtig, lasst den Mann durch! Er löst den Fall auf jeden Fall!«
Saller ist vollkommen fokussiert. Sonst wäre ihm etwas an Rettig aufgefallen. Zum Beispiel, dass es sich um eine brauchbare Antwort handelte – brauchbar für Locher.
Der Wagen braust die Murnerstraße hinunter.
Locher wartet. Er sitzt in einer nicht einsehbaren Ecke des Druckereihofes. Container, Altpapierpakete, Maschinen, Instrumente und Fahrzeuge jeglicher Art kreieren ein Labyrinth unter freiem Himmel.
Locher kauert in einem kleinen Gang aus Altpapierwänden. Den Rücken angelehnt, den Duft des verbrauchten, aber unschuldigen Pergaments einatmend. Das sind Reste,
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