Grimms Erben
Abschnitte, Fehldrucke und Überproduktionen aus der Druckerei. Zusammengepresst zu Stapeln, gestapelt zu Türmen, aufgetürmt zu Mauern. Eine papierarchitektonische Landschaft voll Wörter und Muster, Bilder und Fotos.
Sein Blick fliegt hinüber zur Druckerei, die er liebte, die für ihn Aufgabe und Sinn bedeutete. Ob sein Reich noch existiert?
Augusts Augen hängen wieder an der Wand voller Altpapier. Ein Lüftchen weht durch sein Versteck. Der säuselnde Wind streicht über die Millionen Blätter und Seiten. Es riecht nach Reform und Erneuerung.
Nach einer Weile vernimmt er schwallartige Wortfetzen, die wie Rußpartikel durch die Gänge der Mauern schweben.
»Wegschmeißen… hinten… Altpapier… mach ich selber… halt das Maul…!«
Tiefsinn ist nicht Inhalt des Gesprächs. Die beiden sich unterhaltenden Personen diskutieren über eine Arbeitsverrichtung, deren Verantwortungsbereich unklar scheint. Dann erklingt Motorengeräusch. Locher springt auf, packt seinen Rucksack und läuft ans Ende des Ganges. Er lässt sich, wie ein Soldat, der hinter einem Schlupfwinkel verschwindet, in eine Nische fallen. Wie ein Soldat im Kriegseinsatz. Obwohl er nicht einmal in der Bundeswehr Dienst leisten musste. Locher ist so unbeliebt, dass nicht einmal der Staat diese Pflicht von ihm abverlangte.
Locher horcht wiederum. Das gelingt auch ohne Ausbildung.
Der alte Texaner, grinst Locher.
Den Flüssiggas-Frontgabelstapler der Firma Hubtex erkennt er am Motorengeräusch. Er nähert sich. Mit ihm der fluchende Staplerfahrer.
»Die Hurenböcke. Nix, aber auch gar nix kapieren die. Arschkrawatten. Mehr Lohn verlange ich, so sieht’s aus. Verdammtes Pack!« Und so weiter.
Trotz des lärmenden Gefährts nimmt Locher diese Flüche wahr und kann sie dem dafür Verantwortlichen zuordnen. Ist ja keine Kunst. Diese niveauarme Primatensprache, die den Ogerwesen zugeordnet wird, kann nur einem gehören: Panzer. Welch glückliche Fügung!
Locher blinzelt durch die Papierecken, schleicht durch die Gänge und erspäht Panzer auf dem Texaner. Er bewegt den Gabelstapler auf einen kleineren, grünen Container zu und stoppt. Der Motor erstirbt, Panzer springt vom Gefährt und schlendert gemächlich zum Container.
»Mehr Lohn!«, schallt es aus Lochers Schlupfwinkel.
Panzer stockt. Blickt sich verwirrt um. Locher blickt ebenso verwirrt, was zum Teufel treibt ihn dazu, Panzers Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen mit dem Ausruf »Mehr Lohn«? Aber war es nicht das, was Panzer verlangen wollte? Mehr Lohn. Lochers Unterbewusstsein suggerierte ihm, Panzer sei für diese Wortkombination besonders aufnahmefähig. Nun gut, er hätte auch »Menschenfleisch!« schreien können, der Oger wäre darauf wohl auch angesprungen. Egal jetzt. Getan ist getan. Keine Zeit verlieren. Jetzt wird’s interessant.
»Mehr Lohn!«
Verdammt, das klingt aber wirklich zu blöd.
Locher kauert hinter einigen Papierstapeln, am Beginn eines Weges, der in die Untiefen des Papier-/Containerlabyrinths führt. Er hofft, Panzer springt auf den zugegebenermaßen saudummen Köder an.
»Viel mehr Lohn!«
Panzer reagiert grantig: »Was soll das? Schau, dass du da rauskommst, du Saumensch.«
Der Gabelstaplerfahrer beschleunigt seine Schrittfolge, die nun auf Lochers Versteck ausgerichtet ist. Locher zieht sich in das Gängewirrwarr zurück.
»Mehr Lohn. Hierher. Mehr Lohn.«
Klar, das klingt unglaubwürdig. Doch Panzer lässt sich locken. Die Taktik greift, was interessiert dann das Mittel? Locher hat den tätowierten Fisch an der Angel.
»Du mistiger Saukopf. Vermaledeites Diebesgesindel. Dir schlag ich das Kreuz weg!«
Panzers Drohungen schießen wie elektrische Ströme durch die Gänge. Papierfetzen erzittern. Er folgt den Geräuschen, verfolgt den Urheber der Verlautbarungen.
»Zeig dich, du Huren…«
Eine überdimensionale Taschenlampe, die eigentlich in Lochers Plan C einen anderen Gebrauch finden sollte, beendet Panzers Flucherei, indem sie hart in seinem Genick aufschlägt. Der Getroffene fährt perplex herum. Ein Gesichtsausdruck wie eine Fledermaus. Seine Augen nehmen etwas wahr. Etwas, das aussieht wie zwei Weizengläser, die auf einem Bundeswehrparka montiert wurden. Aus einem Ärmel ragt eine menschliche Faust, die eine schwarze Stange mit sich führt. Panzer greift nach den Gläsern, das geht schnell. Schläge verteilen geht bei Panzer immer schnell, selbst in einem Zustand der Verwirrung. Die kräftigen Hände ergreifen so etwas wie einen Hals.
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