Grimms Erben
Rapide hüpft er vom Fahrersitz. Er eilt nach hinten zur Ladefläche. Das sieht beschwingt aus, er fühlt sich gut. Augenpaare dritter Personen fehlen. Kein Mensch weit und breit, außer Frau Maria Jadwiga »Habe sie selig« Kowalski.
Nach dem Öffnen springt er agil auf die Ladefläche und begrüßt die ängstliche Frau mit den Worten: »So – wollen wir?«
Frau Kowalski reagiert nicht mehr, ihre ganze Haltung verkörpert panische, steife Angst. Die lautstarken Äußerungen, mit denen sie ihre Abneigung gegen Locher zum Ausdruck bringt, gehören der Vergangenheit an. Ihre hysterischen Ausraster sind einer Art Vortotenstarre gewichen. Ihre Augen schimmern angsterfüllt. Locher will die Rollstuhlrampe am Ende der Ladefläche einhängen. Das stählerne Ding, das während der Fahrt mit dem »Spanngurt« an der rechten Seitenwand befestigt war, ist nicht so schwer, wie es aussieht.
Nachdem er die Aluminiumplatte fachgerecht angebracht hat, dreht er den Rollstuhl um 180 Grad. Der Rollstuhl steht nun direkt vor der Rampe, wie eine Rakete zum Abschuss positioniert. Wie ein Abfahrer, sagen wir mal, Hermann Maier, oder, weil Frau Kowalski eine Dame ist, wie Hilde Gerg guckt sie nun aus dem Starthäuschen den Abhang hinunter. Die Kitzbühler Streif, vergleichbar ist diese legendäre wie gefürchtete Abfahrt mit dem Kalvarienberg schon, irgendwie.
»So Baba Jaga Kowalski«, Locher befreit sie von den Körperfesseln, »die Hetzjagd hat ein Ende! Wir sind angekommen. Am Ziel.Nur sitzt du nicht auf meinem Rücken, wie im Märchen, sondern auf deinem Besen. Einem verfluchten Raketenbesen aus Metall und Gummi.«
Damit reißt er ihr den Klebestreifen von ihrem wimmernden Mund, ruckartig. Was ihn antreibt, ist der Gedanke an exzessive Genugtuung im Namen der Gerechtigkeit. Eustachius um seinen Hals wippt zustimmend. Hipp, hipp und ein Hurra auf den Revanchisten und Utopisten! Was sagen Sie? Arme Frau Kowalski? Bitte, hören Sie auf, Mitleid mit der alten Hexe zu haben. Ihre jahrelangen Bombardements an Flüchen und Verleumdungen erlauben keine Anteilnahme.
Der Rollstuhl samt Fahrgast zittert wie Espenlaub.
Locher verpasst dem Rollstuhl von hinten einen Tritt. Dieser stürzt über die Metallrampe Richtung Asphalt, von dort gleitet er umgehend auf die um dreizehn Prozent abfallende Steigung der Kalvarienbergstraße. Der Besen auf Rädern nimmt höllisch Fahrt auf. Von der alten Frau hört man nichts. Baba Jaga hat ausgezaubert. Kein Schreien, kein »Ich verfluche dich«, vielleicht rettet sie die Ohnmacht vor dem Endspurt des Spektakels.
Der Rollstuhl bleibt ordentlich in der Spur, hat eine enorme Beschleunigung. Diverse Reibungen von Kleinteilen des Radlagers ergeben eine flotte Melodie. Das Ganze klingt nach John Coltranes Saxophon in »Countdown«, wie Locher findet. Ein Rodeostück. Der Rollsplit, der gegen die Stahlspeichen und Kunstledersitzfläche springt, markiert das swingende Schlagzeug, die quietschenden Gelenkverbindungen ein wild röhrendes Saxophon, die springenden und pumpenden Pneureifen geben hin und wieder dumpfe Basstöne von sich. Ein klingender, singender, swingender Hexenbesen.
Der beste Jazz, den ich je gehört habe.
Das Lied wird immer leiser – und immer schneller. Coltranes prustende Saxläufe brechen schlagartig ab, der Countdown wird gezählt – 3, 2, 1, aus! – und der Rollstuhl knallt unten gegen den Bordstein des Bürgersteigs, der am Garten des Altenheims St. Ottilien vorbeiführt. Dort angekommen, blockieren die Räder die Höllenfahrt des Stuhls. Er verliert schlagartig sein Tempo. Hier können sich nun physikalisch Begabte Folgendes besser vorstellen, als Nicht-Physiker: Durch das abrupte Abbremsen der Geschwindigkeit wird Frau Kowalski aus ihrem Sitz geschleudert. Sie wird unfreiwillig zum Geschoss, der Rollstuhl zum Katapult. In hohem Bogen saust der Körper der alten Hexe über den Holzzaun des Altenheims St. Ottilien.
Für Ungläubige, die diesen flugakrobatischen Vorgang als unmöglich erachten, erbringe ich keinen Beweis, aber folgende Bemerkung: Doch, das geht. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.
Im Seemannshecht landet Maria Jadwiga Kowalski im Geranienbeet, fast vor den Füßen von Herrn Abel, Bewohner des Altenheims St. Ottilien. Er blättert gerade auf einer Parkbank sitzend in einem gelben Reclamheft.
Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame.
Gibt’s solche Zufälle? Jawohl, sie existieren.
Der Aufprall des alten Gerippes auf der Erde klingt wie ein Pressschlag auf der
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