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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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perplex, zu konsterniert und zu gefesselt, um sich zu wehren, sitzt da und schweigt. Eine Stille, die Locher gerne auf Tonband aufgenommen hätte. Panzer und er alleine zusammen – und der Tyrann hält die Fresse. Ein Geräusch für die Ewigkeit. Nur der Wind pfeift leise durch die Containerlandschaft. Es riecht. Riecht nach Reform und Veränderung. Und nach Gas. Das kommt von dem Feuerzeug, das Locher anwirft.
    Kennen Sie diese Situation, wenn sich binnen wenigen Sekunden eine Stimmung um 180 Grad dreht? Sich komplett verändert. Vielleicht wollen wir uns zwei dreijährige Kinder vorstellen, die sich umarmen und im nächsten Moment zu prügeln beginnen, weil das eine dem anderen aus Versehen an den Haaren gezogen hat. Genau richtig, hier ist das auch so. Nur dass Locher nicht an den Haaren gezogen hat, sondern schlimmer. Panzer, der Berserker, der Maulaffe, der Riese, der übermächtige Oger fängt urplötzlich an zu wimmern. Bitterlich. Voll der Panik. Voll des Verständnisses, dass in den nächsten Sekunden etwas Markverzehrendes passieren wird.
    Locher sieht Panzer in seine vor Angst berstenden Augen. Harmonie flutet durch Lochers Körper. Dann flüstert er in Panzers Ohr:
    »Volles Rohr!«
    Er weicht von Panzers Seite, sagt:
    »Deckung!«
    Locher beugt sich nach unten und wirft zum letzten Mal das Feuerzeug an. Die Flamme tanzt ein wenig im Wind, hält sich aber am Leben. Locher ruft:
    »Feuer!«
    Er entzündet die Lunte.
    Die durchschnittliche Lunte eines Chinaböllers E, oder in diesem Fall Superböller II, ist zwei Zentimeter lang und brennt innerhalb von drei Sekunden ab. Die Länge des roten Sprengkörpers beträgt elf Zentimeter. Nochmals streng eingewickelt in Klebeband, damit die Sprengkraft erhöht wird. Das Ganze angebracht an Panzers Penis.
    Diese Angaben sind ohne Gewehr, aber hier ist es eben so.
    Bitte beschimpfen Sie mich nicht als Sadisten, diesen Vorkommnissen muss ich als Erzähler nachgehen. Brutal ist vieles, auch Seelenpein, vielleicht ist das sogar schlimmer. Der Detonation nach zu urteilen war es eine heftige Explosion. Da ich dort jetzt auch nicht so gern hinsehen möchte, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob das gesprengte Geschlechtsteil des Unterlegenen wie eine aufgeplatzte Knackwurst oder wie eine überfahrene Kröte aussieht, oder gar völlig weggefetzt wurde. Ob die abgetrennte Eichel wie ein Flummiball in eine der Papiermauerecken gehüpft ist und zwischen zwei Magazinen der Druckerei, möglich wäre »Jagd & Waffen« und ein Sparkassen-Comicheft, stecken blieb, ob der Mann nun verblutet, was anzunehmen ist, oder nicht, weil ihn rechtzeitig einer der Kollegen findet – Franz Groß, René Weigl, Martin, Breitner, Sven Keulerts, Manni, Öner Cicek oder Berger selbst. Ich kann nur, genauso wie Sie, spekulieren.
    Klar ist, August Locher hat eine neues Märchen geschrieben: »Schrumpelstilzchen«.
    Den eunuchösen Schrei von Panzer kann Locher hören. Noch lange hört er ihn. Ein Gewimmer, das Panzer nicht so gut steht – wie Locher findet. Nun hat er endlich seinen Rohrkrepierer erhalten. Der Panzer ist Altmetall. Schrott. Sperrmüll. Die Waffe zerstört. Der Krieg ist zu Ende.
    Eine Moral muss es geben:
    »Esse nie die Seele anderer.«
    Glück pocht in Lochers Brust. Schweiß läuft ihm übers Gesicht. Oder sind es Tränen? Tränen der Freude. So befriedigt fühlte er sich noch nie in seinem Leben.
    E – DIE GEISTERBRAUT
    Donnerstag, 17 Uhr 36
    Das Bild, das sich vor Lochers Augen auftut, kann ihm den Hunger nicht verderben. In dicker, roter Schaschliksauce liegt müde eine zu Scheiben aufgeschnittene Currywurst. Das gelbe Pulver sorgt für farbliche Abwechslung. Sieht aus wie ein überfahrenes Eichhörnchen. Eichelhörnchen. Automatisch muss Locher an Panzer denken.
    Der Imbiss ist schmackhaft. Locher lehnt an der Theke der Bude auf Rädern. »Wurst-Kanone« heißt der Stand, an dem familienlose Feierabendgänger sich ihr Abendbrot servieren lassen. Es riecht nach Fritteusenfett, in Öl getränkte Tierware und pomadige Kartoffelgerichte. Welliges Fleisch und schwarzverkrustete Würste liegen auf der schmierigen Bratfläche. Die Currywurst ist aber lecker, da gibt es keine zwei Meinungen.
    Je ekliger die Bude, desto gustiöser die Wurst.
    Eine typische Locher-Theorie.
    Besonders die Sauce, welche schöpflöffelweise aus Zehn-Liter-Eimern über die aufgeschnittenen Phosphatstangen gekippt wird, findet Locher exzellent. Und sein Leben. Das flüstert ihm gerade märchenhafte

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