Grimms Erben
in den Stapel Autozeitschriften. Ehe sich dieser der prekären Lage bewusst ist, woher und vor allem warum diese Gewalteinwirkung über ihn hereinbricht, ist sein Unterkiefer in Klebeband gehüllt. Locher dreht den dünnen Körper zu sich. Seine Nase berührt die Nase des Jungen. Die Augen des Buben weiten sich.
»Wf fl d, d bld Pn?« Soll heißen: Was soll das, du blöder Penner?
»Hallo, böser Wolf«, flüstert Locher wie Pennyvise der Clown in Stephen Kings »ES«.
»Ich habe dir etwas mitgebracht.« Locher reißt seinen rechten Arm in die Höhe und streckt einen Pfeil zur Garagendecke. »Der gehört wem?«
Björn-Ben, frech wie eh und je, frotzelt ins Klebeband: »Du bescheuerter Penner, was machst du mit meinem Pfeil? Gib ihn mir sofort wieder.« Es klingt natürlich anders.
Locher brüllt: »Der gehört wem?« Björn-Bens Ohr flattert. Er spürt, er befindet sich womöglich in einer für ihn doch sehr ungünstigen Position. Er schwitzt. Kleinlaut kommt: »Mha.«
»Dir?«
Der Bub nickt schnell mit dem Kopf. Sein sehniger Körper versucht sich zu befreien. Angst dringt nun aus jeder Pore.
»Wieso steckt er dann in meiner Küchenwand? Warum hast du damit meinen gefiederten Freund getötet?«
Keine Antwort, nur erstickte Laute. Schrill und hilferufend zugleich, aber wer soll ihn hören, gar erlösen? Der Vater im Werk, die Mutter im Keller der Bank, die Schwester im Internat, die eine Nachbarin im Geranienbeet. Der Nachbar quer über der Straße mit seinem Hund in der Klinik usw. Und dass ein Junge einfach mal wild brüllt, gehört zum kindlichen Spieltrieb. Wer achtet da schon auf unkontrolliertes Geschrei.
Ehe er sich versieht, ist der ganze Wolfskörper nicht nur mit Angst überzogen, sondern auch mit einem gelben Plastikklebeband. Von den Füßen bis unter die Achseln. Die Arme frei, aber ebenso eingehüllt in Gelb.
Lochers Finger kribbeln während des Klebevorgangs, unter seinen Nägeln pocht es.
Ein zwei Zentimeter dickes Seil wird dem zuckenden Leib um die Brust gelegt. Locher bindet einen Achterknoten als Halt, zieht das Seil straff. Dann, fern jeglicher Güte, schleift er den weinenden Balg hinter sich durch die Garage ins Freie. Solche Szenen kennt man aus Wildwestfilmen, bei denen Bösewichte an einem Lasso hinter galoppierenden Pferden hergezogen werden. Meist ein theatralischer Akt der Rache. Und genauso ist das gemeint.
Locher vollführt einige Seilwürfe, erreicht mit dem Hanf eine Position, mit der er flaschenzuggleich den gelben Koloss über den Basketballring in die Höhe manövrieren kann. Er vertäut das Seil an der Metallstange, auf der das Sportgerät angebracht ist. Agil, obwohl eigentlich unsportlich – doch Vergeltungsdrang sorgt für Flexibilität – klettert er über die unter dem Ring platzierte Mülltonne nach oben. Und heftet den Wolf-Jungen, der als solcher nicht mehr zu erkennen ist, mit noch mehr Gaffa-Band ans Brett.
Wie Jesus am Kreuz, steckt nun Wolf junior mit den zusammengebundenen Füßen im Korb, die ausgebreiteten Arme mit Gaffa an die äußeren Ränder des Brettes getapet.
»Und hier. Dein Pfeil.«
Kurz blitzt das emporgereckte Aluminiumgerät in Lochers Hand auf, ehe seine Spitze wuchtig unterhalb der linken Schulter in den Körper eintritt. Der Pfeil durchtrennt den Musculus pectoralis minor, einige Muskelfascien und die Spitze findet ihren Ruhestand zwischen Schlüsselbein und erstem Rippenbogen. Blut tritt langsam aus dem Einstichloch, sickert zwischen den Klebestreifen hindurch. Nach dem ersten Schmerzensschrei, der gegen die Klebebandschicht prallt, beginnt Björn-Ben zu wimmern. Er weint. Er atmet schwer und zitternd. Ob er bereut? Bei all seinen ausgeübten Widerlichkeiten, bei all seinen sieben und abersieben Geißelungen, die ihm nun in Erinnerung gebracht worden sind, muss man annehmen: Ja, er bereut.
Jede Geschichte hat ihre Moral:
»Töte niemals das Liebste anderer.«
Locher, mittlerweile schon wieder in seinem Haus und diverse Utensilien ordnend, sieht aus dem zerbrochenen Küchenfenster. Gedanken rasen. Gefühle wirbeln herum. Unbekannte Gefühle. Neuartige Empfindungen. So etwas wie Leichtigkeit.
D – DAS GLÜHENDE TEILCHEN
Donnerstag, 14 Uhr 45
»Wussten Sie schon, dass der rote Sandsteinmonolith Ayers Rock seinen Namen vom europäischen Entdecker William Gosse erhalten hat?«
Mit einer Jagdmütze aus Fell und einer grünen Fliegerjacke bekleidet, die Beine sind von einer blauen Puma-Trainingshose mit Steg umgarnt, plärrt Karl
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