Grimms Erben
steuert seinen letzten Posten an. Der liegt im hinteren Hofteil der Grimbartstraße 7, welcher direkt an den hinteren Hofteil der Reinekestraße 6, dem Anwesen der Engelhardts, angrenzt.
Locher kniet im Baumhaus von Michi Fischer, einem achtjährigen Cowboy, der, wenn er Locher über den Weg lief, immer an seinen Cowboyhut aus Stroh tippte. Gesprochen haben sie nie miteinander.
Locher beugt sich zurück ins Innere des Baumhauses. Er lehnt nun mit seinem Rücken an der Wand, sein Gesäß ruht auf einem Stapel Comicmagazine.
»Winnetou«. Das ist ja witzig. Eine enorme Sammlung von den begehrten Heften aus den 1960er Jahren, erschienen im Lehning-Verlag.
Normalerweise legt sich Locher zum Aufsaugen der phantastischen Geschichten das Leseutensil auf den Kopf. Ob dies auch durchs Gesäß funktioniert?
Seine vom Tagwerk verschmutzten Handflächen liegen ruhig auf seinen Kniescheiben, die sich wie zwei Revolvergriffe anfühlen.
Die Atmung stößt rhythmisch zufrieden Luft aus. Ruhe übermannt ihn. Er schweift gleitend in die Vergangenheit, schließt die Augen.
»Jede Geschichte hat ihre Moral.«
Er sieht nun hinter geschlossenen Lidern, wie Großvater und er gemeinsam Bilder an die Wohnzimmerwand nageln. Diverse Fotos. Erlebtes eingefroren in rechteckige Formate.
Auf einem Foto balanciert er einen Stapel Bücher: Das letzte Wort, das er heute Morgen im »Grimm’schen Wörterbuch« nachgeschlagen hat, war: »Vergeltung – … leistung von gegendiensten für empfangene wolthat oder im üblen sinne für übelthat (strafe).«
Auf einem anderen steht er mit einem Kochlöffel am Herd und schaut beleidigt: Das war an Augusts zwölftem Geburtstag. Beim Vorhaben, ihre Küche in das Schlaraffenland zu verwandeln, verbrannte gleich das erste Gericht. Das Brathühnchen war kohlrabenschwarz und flog, statt in den offenen Mund, in den Müll.
Ein Foto zeigt Großvater grinsend unterm Weihnachtsbaum sitzend: Zacharias und August schmückten, wie er sich noch gut erinnern kann, den Weihnachtsbaum mit Schreibpapier, auf das sie Weihnachtsgedichte gekritzelt hatten. Das war vor etwa zweiundzwanzig Jahren.
Auf einem Abzug sieht man Großvater auf seinem Adler sitzen. Der treue Adler steht mittlerweile wieder repariert, geheilt von allen Wunden und abflugbereit in der Hütte. Wenn August mit seiner Komposition fertig ist, fliegt er mit seinem Adler los. Richtung Zacharias. So sein Plan.
An dem Tag, als August sein erstes gebundenes »Bestiarium von Freyung« in der Hand hält, wurde festgehalten, aber nur auf einem Foto sind Großvater und Enkel gemeinsam abgelichtet. Sie stehen vor der Bibliothek und blinzeln, von der Sonne geblendet, schief grinsend in die Kamera: August beginnt ebenfalls schief zu grinsen.
Scharlie & Pip. Die Aufzeichnungen vom grauen Wal, ihrem Haus. Die rote Blechdose. Die Pakete mit den Wörterbüchern. Die Hütte und der Hirsch in Öl. Grainau. Ehrwald. Tajakopf. Seebenwand. Mandlhuthütte.
»Großvater, du elender Geheimniskrämer. Wenn du noch lebst, dann finde ich dich!«
Locher öffnet die Augen. Bald ist er ein freier Mensch.
Ein Knattern lässt ihn in die Realität zurückschlittern. Eine Krähenschar durchstreift den dunkel werdenden Abendhimmel. Sie krakeelen aufmunternd: »Weiter, August. Go. Go. Go.«
Der Wind dreht sich.
Der Schlussakkord fehlt.
Der Schlussakkord in Moll.
Für ihn wird dieser Klang reinstes Dur sein. Hell und klar. Er hat die Töne schon komponiert. Muss sie nur noch spielen, auf der Klaviatur des Lebens. Dann ist sie fertig:
Seine Sonate der Vergeltung.
Das Baumhaus, das Locher als Aussichtsplattform dient, steht im Anwesen der Familie Fischer, und grenzt an der Grimbartstraße rücklings ans Grundstück der Buchmörder Engelhardt. Locher blickt durch das kleine Fenster. Durch das sieht er bis zur Hinzestraße hinüber, in der ein wenig Aufruhr herrscht. Die Straßenbeleuchtung der Hinzestraße ist keine Stadionbeleuchtung, aber was da vor sich geht, weiß er. Locher erkennt einige Polizisten am Haus der Wolfs. Deren grobes Kind ist vom Basketballkorb entfernt worden. Locher zählt drei Polizeiwagen. Auf einem dreht sich stumm das Martinslicht. Sallers Dienstwagen. Noteinsatz!
In dem Menschenpulk wedeln die Engelhardts aufgebracht mit den Armen, deuten immerzu auf Lochers Besitz, der aber vom Engelhardtwohnhaus verdeckt ist. Sie sehen dabei aus wie verrückt gewordene Dirigenten von Wagners Walküre.
Lochers Blick schweift ins erhellte Wohnzimmer der Malangrés.
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