Grimms Erben
Herr Malangré sitzt auf einem Sofasessel, das Gesicht in die Hände vergraben, sich schüttelnd. Offenbar weint der Mann. Jemand ist bei ihm und notiert etwas auf ein Blatt Papier. Sieht aus wie ein Notarzt.
Für Locher ein hervorragendes Gesamtbild. Was für ein Tag. Eine Revanche, wie sie im Buche stehen könnte.
Locher entscheidet sich für eine solidarische Nachricht an Michi Fischer, den kleinen Westernhelden, indem er mit seinem mitgeführten Taschenmesser in krakeligen Buchstaben Winnetou war hier in eine Bohle neben das Fenster ritzt.
Es sollte kein Kind geben, das Karl May nicht kennt.
Eine typische Locher – Theorie.
Leider gibt es aber Kinder, die keinen Geschichtenerzähler als Großvater haben. Keinen Buchempfehler und Holzhüttenbibliothekenbesitzer, der die Phantasie am Köcheln hält. Und somit nicht wissen, dass die Engelhardts die gleichen charakterlichen Wesenszüge aufweisen wie Parannoh, der weiße Häuptling der Ponkas, alias Tim Finnetey, die Kröte von Athabaskah. Tim Finnetey, der Intimfeind von Old Firehand.
Feuerhand.
Feuerland.
Locher zieht seine Waffen – flüssiges Dynamit, sieben Flaschen voll. Warum diese Wurf- und Brandwaffen nach dem ehemaligen russischen Regierungschef und Außenminister Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow benannt wurden, weiß Locher nicht, aber sehr wohl, dass dieses zündende Gemisch einen ähnlichen Effekt haben wird wie Winnetous Sprengstoffangriff auf den Saloon von Rocky Town. Es wird Feuer sein. Und Entsetzen.
Buchmörder Gisbert Engelhardt beschießt Oberwachtmeister Saller mit bitteren Worten der Anklage.
»Wissen Sie was? Der Mann war immer schon gefährlich, bedrohte Umwelt und Mitmenschen. Mit Waffen. Trat meiner Frau mit’m Messer gegenüber. Der hat hier keinen guten Ruf, müssen Sie wissen. Dreck am Stecken. Immer schon. Ja. Wissen Sie, der alte Locher war schon plempem, ja, also nicht ganz richtig im Oberstübchen, nicht? Und der Sohn, also der spinnt total. Klapse, wenn Sie mich fragen, also ich bin Zeuge, falls Sie einen brauchen, wissen Sie. Also das ist ja furchtbar, was der mit dem armen Wolf-Jungen angestellt hat. Aber das war ja klar, wissen Sie, dass der mal so austickt, nicht? Verrückt. Gänzlich verrückt.« Buchmörderin Lydia Engelhardt ruft in einem fort: »Der Schwachsinnige war es! Der Schwachsinnige!«
Oberwachtmeister Saller notiert, wie es sich für einen guten Polizisten gebührt, das Gesagte auf einen verknitterten Din-A6-Ringblock, um den Fall auf jeden Fall zu lösen.
»Haben Sie ihn dabei gesehen? Oder Sie?«, will Saller von den Engelhardts wissen.
Gisbert Engelhardt fragt: »Gesehen? Ja nun, bei was?«
»Na, als er den Jungen da Dingsbums an den Korb.«
Saller deutet mit seinem Kugelschreiber auf den Tatort Nummer drei, den Basketballkorb der Familie Wolf. Wer genau hinblickt, kann zwei leichte Grübchen an Sallers Mundwinkel ausmachen. Die hat er nur, wenn er grinst. Ihn amüsiert etwas. Seien wir ehrlich: Trotz der überaus brutalen Vorgehensweise schlummert in diesem Fall eine gewisse Phantasie und Originalität. Das gilt für alle Vorfälle, die Saller heute bearbeiten musste.
Nervenzusammenbruch beim Herrchen eines explodierten Hundes.
Die fliegende Kowalski. Und die zufällige Solidaritätserklärung des Herrn Abel.
Der Junge in Klebeband eingewickelt am Korb, aufgebahrt wie der Messias am Kreuz.
Eine abgesprengte Peniseichel samt aufgeplatztem Panzerrohr.
Brand im Bräunungsstudio und das Einfangen einer verwirrten, nackten Sonnenanbeterin.
Ein Feldzug der Kreativität.
Oder Einzeltäter?
Er hat die einzelnen Fälle mit Namen versehen.
Der Fall »Jesuskind am Korb« bleibt vorerst ein Rätsel, aber was drängelt sich bei dem Fall »Flugobjekt Maria Kowalski« in den gedanklichen Vordergrund? Die greise Dame wollte sich auf ihre alten Tage bestimmt nicht am Rausch der Geschwindigkeit ergötzen. Ihr gefesselter Zivi bringt das Bild einer möglichen Entführung zur Verdeutlichung. Seltsam.
Der des Papierarbeiters und Gabelstaplerfahrers, Opfer eines kuriosen Geschlechtsteilanschlags, wirft ebenso Fragen auf wie der Brandanschlag auf die Sonnenbank »Sunny Side Up«, bei dem die Supermarktangestellte Petra Cernak um ein Haar ihr Leben ließ. »Pralle Eichel« und »Sonnenbrand«.
Den Fall von Herrn Malangré, der seinen Hund durch eine »Arschbombe« verlor, lässt Saller erst mal außen vor. Ein Bubenstreich. Oder doch Teil dieses bitteren Streifzugs der Verwüstung? Alle Wege führen zu
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