Grimms Erben
Locher.
Aber warum sollte August Locher diese unsinnigen Taten begangen haben? Wo liegen Antrieb und Motiv?
»Ja nun, wissen Sie. Gesehen hab ich schon etwas. Aber der Junge hat doch deutlich gesagt, dass es der Locher war«, windet sich Gisbert Engelhardt. Engelhardt merkt, dass er als Zeuge mehr bieten muss als mutwillige Anschuldigungen. Locher muss an den Pranger – nach seinem Empfinden.
Was Lydia Engelhardt empfindet ist unklar, vielleicht ist sie mittlerweile verrückt geworden, ihr monotones »Der Schwachsinnige war es!« wirkt mittlerweile beängstigend pathologisch.
Im Kopf des Oberwachtmeisters steigt die Frage empor, wer hier wohl schwachsinnig sei, aber er bedankt sich trotzdem höflich für die definitiv unnützen Aussagen.
Und dann weckt etwas gänzlich Unerwartetes seine Aufmerksamkeit. Ein Aufblitzen, kleine Flammen züngeln in den Pupillen, die zu einer Leinwand für ein lichterlohes Schauspiel dienen.
Teure, unschätzbar wertvolle, übergroße Holzskulpturen stehen in Flammen. Einst ausgezeichnet mit Publikums– und Kritikerpreisen, tragen sie jetzt tanzende Hüte aus Feuer. Ihre Holzgesichter und Münder lassen stumme Hilfeschreie über die Hinzestraße flattern.
Herr Engelhardt: schaut ohnmächtig.
Frau Engelhardt: wird ohnmächtig.
Saller staunt.
Es knackt und knistert.
Fünf brennende Holzskulpturen erhellen die Sommernacht und verdrängen das Mondlicht und die Leuchtkraft der wenigen Straßenlaternen.
Und bevor sich ein Polizist oder ein anderes, geistesgegenwärtiges Individuum um einen Löschzug oder dergleichen kümmert, züngeln über dem Holzdach des Engelhardtwohnsitzes giftige Flammen. Im Nu brennt das ganze Haus.
Spitz und hell durchschneidet die Stimme von Polizeimeister Brinkmann das Feuerrauschen:
»Seht mal. Da.« Er deutet in die Richtung der grellen Brunst.
»Da steht ein…«
Er beugt sich nach vorne, schärft seinen Sehsinn.
»Da steht…«
Er richtet sich wieder auf, nimmt die Dienstmütze vom Kopf und kratzt sich seinen weißen Schopf an der Schläfe. Seine Haare deuten zum Himmel. Und ein wenig könnte man meinen, auch auf seinem Haupt züngeln Flammen.
»Da steht Schneewittchen.«
Ob Sie es glauben oder nicht. Brinkmann hat recht. Vor dem brennenden Besitz der Engelhardts grinst ein 50 Zentimeter großes Schneewittchen aus Keramik über die Straße, ehemals im Besitz des Blumenladens Zimmering, mit folgender Moral auf den lachenden Lippen:
»Brennen muss der, der Bücher verbrennt. Brennen muss der, der das Eigentum anderer verbrennt. Brennen muss auch der, der mit ungerechtfertigten Anschuldigungen Rufmord und mehr begeht. Und im Übrigen sollen alle brennen, welche fern der Gerechtigkeit und in Boshaftigkeit Mitmenschen gegenüber leben.«
Durch die Tausenden Funken und Lichtbrechungen kreiselt immer noch das Martinshorn von Sallers Dienstwagen. So blinkt das Gesicht von Schneewittchen abwechselnd blau, orange, gelb, schwarz und gold. Ihre aufgebogenen Mundwinkel tanzen im Licht- und Schattenspiel.
Eine der bekanntesten Figuren der Märchenwelt verkörpert mit feistem Gesichtsausdruck den Triumphzug eines geknechteten Teilnehmers unserer Gesellschaft.
Dieser Teilnehmer saugt es auf.
Die Genugtuung seines Tagewerks.
Die Vollendung der Septologie seines Glücks.
Die anwesenden Menschen verblassen.
Locher wird rot vor Wonne. Der Vergelter hat seinen Plan finalisiert. Der Zauberlehrling seinen letzten Trick vorgeführt. Der Verdammte ist erlöst. Eustachius, sein Schutzpatron, hat seine treuen Dienste unter Beweis gestellt.
Und Schneewittchen?
Schneewittchen lacht.
Und lacht.
Und lacht.
Und lacht.
Das Lachen klingt, als würde ein Schwarm Krähen über den Sommernachtshimmel fliegen.
Und mittendrin ein Adler.
TEIL DREI
OLYMPUS MONS
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Oans – Lügenduell
Sehen Sie die beiden? Die, die da über die Autobahn rasen, als wäre eine Polizeiarmee hinter ihnen her? Trotz des hohen Tempos sitzen sie recht lässig im Volkswagen. Verfolgt werden sie nicht. Himmel, die bayrische Polizei würde sie bei der Geschwindigkeit und dem kleinen Stückchen Haschisch, das sich in dem weißem Sergio-TacchiniTennissockenpaar des Beifahrers befindet, umgehend einbuchten. Sie wollen nur flott ans Ziel. Das ist alles. Da »Schiffe versenken« während der Autofahrt kein geeignetes Mittel zum Zeitvertreib ist, amüsieren sie sich mit einem Aufzählspiel. Der Beifahrer beendet gerade seinen verbalen Zug. Der Fahrer, und jetzt
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