Grimms Erben
Sommerjacke über die nackte Taille binden? Vorerst besser nicht eingreifen, könnte ja eine verrückte Amokläuferin sein.
Die Cernak scheint verwirrt, ihr Orientierungssinn vom Schock angenagt. Sie treibt unsicher, sich an den schützenden Aufsteller klammernd, in Lochers Richtung.
Gundis Ayala ruft nun »Alles Frau draußen!« Sie löscht mit dem Inhalt einer Zwanzig-Liter-Gießkanne vom Nachbarladen den brennenden Papierkorb, den Locher vor einigen Minuten unbemerkt in Brand gesteckt hatte.
Verletzen wollte Locher niemanden damit. Das ist ihm gelungen. Und mehr:
Lochers ehemalige Rose ist entblättert. Welk. Trocken. Stachlig. Die Supermarktelfe aus dem Märchen genommen. Jeder Zauber verflogen.
X-beinig und erdrückt, die verkrampften Hände von hinten in die seitlich wegkippende Shakira verkrallt, das angemalte Gesicht von einem porösen Strohvorhang verdeckt, kauert sie starr vor der Ladenzeile.
»Hilfe, ich brenne.«
Locher muss sich eingestehen, die Abrechnung ist gelungen. Er wollte ihr einen geräucherten Schreck einjagen. Die Cernak wird sich in Zukunft hüten, auf enttäuschten Herzen lustige Stepptänze aufzuführen.
Ein kleines Missverhältnis nagt allerdings an der Genugtuung. Das öffentliche, niveauarme Publikum hätte nicht unbedingt sein müssen. Nun gut, sein zertrampeltes Herz pocht wieder. Die Cernak wird für ihn die böse Hexe des Westens bleiben. Verliebt ist er nicht mehr. Die Hochzeit ist geplatzt. Ich bitte Sie, wer ist schon mit einer Hexe verheiratet? Hm, wahrscheinlich würden jetzt 95% der männlichen Wurstbudenkunden »Ich« rufend die Hand heben.
Die Cernak schleicht auf Locher zu, schwebt geisterhaft auf ihn zu, erkennt diesen, wirkt kurz beschämt und erhofft dann ihre Rettung, breitet fordernd die Arme aus. Shakira gleitet pfeifend zu Boden.
»Locher, Ihren Mantel. Schnell.«
Locher blickt nicht an ihr herab. Er hat gesehen, was er jahrelang als unerreichbar schön empfand. Nun schaut er ihr nur tief in die funkelnden, flehenden Augen, in denen er folgende Moral findet:
»Die Würde eines Menschen ist unzertrampelbar. Ebenso sein Herz.«
»Nein«, Locher schüttelt den Kopf. »Sie sagten, der stinkt.« Die sieben Zwerge blicken diesem Treiben bedrückt zu und bemerken bei dem ganzen Aufruhr nicht, dass sich Schneewittchen aus dem Staub gemacht hat.
F – KNÜPPEL IN DEM SACK
Donnerstag, 1 Uhr 40
Die Polizei findet um 1 Uhr 40 die vier seit viereinhalb Stunden als vermisst gemeldeten Kinder aus der Tybbkestraße. Sie wurden in vier Kartoffelsäcke gepackt, unter der hinteren Sachbachbrücke gefunden und wiesen schwere Prellungen am Armen, Beinen, Rücken auf. Das Seltsame dabei war, dass sie sich die Verletzungen mit Knüppeln, die jedem Sack beigelegt waren, beim Versuch, sich zu befreien, selbst zugefügt hatten.
Sie wissen schon, Tybbkestraße, die mit den Rotzbuben, die Sonderschüler, Befreiungsversuch…
Aber erzählen wir das Ganze der Reihe nach und verstehen diesen kurzen Exkurs als Ausflug. Als Vorwegnahme. Als märchenhaften Zusatz. Der Vollständigkeit halber. Aber mit folgender Moral:
»Strapaziere nicht die Nerven der Mitmenschen. Füge ihnen keine Schmerzen zu!«
G – DIE FÜNF KAMERADEN UND DAS EWIGE LACHEN
Donnerstag, 20 Uhr 55
Locher wandert auf dunklen Umwegen durch die Stadt in sein Viertel.
Sein Magen klopft ihm gegen den Hals. Dieses nervöse, freudige Gefühl ist neu. Fast wie fliegen fühlt sich das an. Locher spürt eine Richtigkeit. Es ist richtig, was er tut. Weil es richtig ist, dass man das tut, was man fühlt. Es ist richtig, sich zu wehren.
Da geht ein Mann, dessen Erscheinung man als schräg bezeichnen würde. Khakibraune Stoffhosen mit leichtem Schlag. Unter dem Schlag hervorschielend schwarze, abgewetzte Arbeiterschuhe. Der olivgrüne, verschmutzte Bundeswehranorak bis zum Hals zugeschnürt.
Das Gesicht gezeichnet:
Eine verbeulte, rote Nase.
Darauf eine entzweite Brille, mit Klebeband zusammengehalten.
Striemen und Blutkrusten von diversen Stürzen.
Ein diabolisches Grinsen von gelungenen Retourkutschen auf den Lippen.
Lochers großer Rucksack hüpft bei jedem Schritt leicht auf und ab. Als wolle er ihm über die Schulter kucken, um zu sehen, wo das letzte Schlachtfeld liegt. Im Innenraum klimpert es verdächtig.
Locher durchquert ungesehen den Garten der Grimbartstraße 5, welche parallel zu Hinzestraße verläuft, schält sich durch die Thujenhecke, springt nahezu leichtfüßig über den Holzzaun in den Garten und
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