Grimms Erben
Kleingeld in der Parkatasche zählt.
»Hier, bitte. Wiederschaun.« Einige Gäste blicken kurz von ihren Papptellern auf. Franz Klammer brummt etwas Unverständliches, das entweder »Danke« oder aber auch »Hau bloß ab, du Pfeife« bedeuten könnte.
Die Cernak hat vor zehn Minuten das »Sunny Side Up« betreten. Locher läuft über die Straße, kramt in seinem Rucksack nach einigen Utensilien, Tischtennisbälle, Alufolie, Holzwolle, Salpeter und so Zeugs. »Change, Hope, Desire!« Bestätigend und im Takt federnd macht er sich an die Arbeit.
»Feuer! Feuer! Fuego! Ayuda me! Um Himmels willen. Alles Frau raus. Feuer!«
Panik. Hysterie. Im Sonnenstudio herrscht Aufruhr. Locher drückt sich noch weiter hinter Ernas Thujenkästen vom benachbarten Blumengeschäft. Vor den schillernden Thujen sind auf einem Tisch aufgereiht sieben Keramikzwerge. Recken ihre Rotkappen in Richtung Tumult. Das liebe Schneewittchen schält sich lächelnd aus deren Mitte. Locher späht durch die Zweige und Zwerge.
Gundis Ayala brüllt ins Innere ihrer Sonnenbude: »Todas fuera! Alles Frau raus!« Dabei klickern ihre Perlenketten aufeinander und klingen wie Gevatter Tod beim Tanz.
Spitze, hohe Schreie dringen aus der offenstehenden Eingangstür vom »Sunny Side Up«. Und Qualm. Starke Rauchbildung lässt Menschen ins Freie tanzen. Und Gestalten. Menschen schälen sich aus dem dicken Grau. Türmend. Ja, diese Menschen, ausschließlich Frauen, sind pudelnackt. Zwei junge Studentinnen, schwitzend, in rote Haut gekleidet, machen den Anfang.
Dann kommt sie.
Lochers große Liebe. Lochers große verflossene Liebe. Als sich der braungebrannte, nackte Körper der Cernak ins Freie schiebt, fallen Glanz und Anmut von ihr ab. Lochers wundes Herz heult auf. Die Bilder der Demütigung im Supermarkt flattern vor seinen Augen.
Sein Herz verformt sich zu einer Faust, schlägt dreimal auf den Tisch und anschließend korrekt weiter. Er tritt aus seinem Versteck und erkennt, was für ihn jahrzehntelang nicht erkennbar war. Der reale Körper der Cernak. Die Supermarktelfe hat in Wahrheit nichts Elfenhaftes, nichts Geheimnisvolles, nichts Anbetungswürdiges.
Wie sie da aus dem Eingang torkelt.
Ihr zerzaustes, zerrissenes Haar, wie trockene Strohbüschel.
Ihr klebriger, zu einem roten Loch verformter Mund, aus dem es hustend »Hilfe, ich brenne« wimmert, das Gesicht bemalt wie eine Faschingsmaske. Schandflecken eines Kosmetikwahns.
Ihr Körper, nun, so freigelegt im Evaskostüm, versprüht selbst für Locher nichts Anziehendes, nichts Sehnsüchtiges mehr.
Wie konnte er diesen verlebten Körper, dessen Hautporen durch Zigarettenkonsum in eine Kraterlandschaft verwandelt wurden, dermaßen obsessiv anhimmeln?
Die Liebe versengt das Augenlicht.
Die neuste typische Locher-Theorie.
Als die Cernak auf die Straße wankt, ist die Sonne hinterm Kirchturm verschwunden, der sechsmal zur Apokalypse läutet. An der Imbissbude regt sich etwas. Große Stielaugen im Gesicht, Büchsenbier in der Hand, sich die Lippen leckend – wankende Schaulustige in Bauarbeiterkluft. Runde Säufer mit Plastiktüten. Lederbejackte Halbstarke mit Mofazündschlüssel am Finger. Und alle belustigen sich lautstark an den nackigen Sonnenanbeterinnen. Selbst Franz Klammer beugt sich aus seiner Frittenbude, seine Zigarette fällt ihm aus dem Mundwinkel.
Die barhäutige Cernak scheint in ihrer Verwirrung noch einen kleinen Funken Geistesgegenwart gefunden zu haben. Sie steuert auf die Papp-Shakira, den Aufsteller vorm Seconhand-Plattenladen, zu, schiebt ihre Nacktheit hinter die kolumbianische Pop-Perle und guckt ihr hilfesuchend über die Schulter. Dieses zweiköpfige Frauenbild gleicht der aus der griechischen Mythologie stammenden Echidna, halb schönäugiges Mädchen, halb grausige Schlange. Locher weiß das. Wer die griechische Mythologie nicht kennt, und das tut der Großteil der Anwesenden, sieht nun eine Shakira und eine Frau, die ihre Mutter sein könnte.
Keiner hilft. Selbst neu hinzukommende Passanten bleiben untätig, versuchen, die Situation zu ordnen. Wir wollen uns ehrlich hinterfragen, würden wir diesem skurrile Schauspiel nicht auch passiv beiwohnen? Würden wir uns nicht stumm folgenden Satz denken: Vorerst besser nicht eingreifen, könnte ja ein Filmdreh sein.
Natürlich, sicher, das steht außer Frage, wir würden nicht lachen, nicht applaudieren, keine Schmähgesänge anstimmen. Aber würden wir sofort zu der bemitleidenswerten Frau rennen und ihr die neugekaufte
Weitere Kostenlose Bücher