Grimpow Das Geheimnis der Weisen
hier befand sich alles, was ihnen lieb und teuer war. Wenn ihre Männer bereit waren, bei der Verteidigung der Festung ihr Leben zu lassen, dann wollten sie mit ihnen in den Tod gehen, so grausam dieses Schicksal auch sein mochte. Sie warteten nur auf einen Wink von Herzog Ulf, um das Gift zu schlucken und für immer einzuschlafen. Als sie Salietti hereinkommen sahen, fürchteten sie daher, ihre letzte Stunde hätte geschlagen und sie müssten von der Welt Abschied nehmen.
Erschrocken warf sich Weynelle in Saliettis Arme, der sie mit angstverzerrtem Gesicht umfing.
»Wo ist Grimpow?«, fragte er.
»Im Saal nebenan, wo er die Jüngsten mit Geschichten von Drachen und Fabelwesen unterhält. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, mit Pfeil und Bogen an deiner Seite zu kämpfen, aber ich habe ihn schließlich davon überzeugen können, dass er in seinem Alter noch nicht für den Krieg taugt«, antwortete Weynelle.
Salietti führte die junge Frau in eine Saalecke und sprach dort mit gedämpfter Stimme weiter. »Ihr müsst unverzüglich von hier fliehen. Das Heer des Barons steht unmittelbar vor der Wehrmauer und wird die Festung in Kürze dem Erdboden gleichmachen. Hier wird kein Stein auf dem anderen bleiben«, sagte er.
»Ich dachte, die Festung wäre uneinnehmbar«, stammelte Weynelle mit besorgter Miene.
»Das war sie bisher auch. Aber für eine so schlagkräftige Kriegsmaschinerie ist sie es offenbar nicht mehr.«
»Was hast du vor?«, fragte die junge Frau, auch wenn sie die Antwort eigentlich gar nicht hören wollte.
»Mein Platz ist neben Herzog Ulf, wie auch unsere Väter in der Versammlung neben dem seinen saßen.«
»Aber du wirst umkommen, ihr werdet alle umkommen!«, rief Weynelle unter Tränen.
Salietti streichelte seiner Liebsten sanft über die Wange. »Deshalb sollt ihr ja gehen. Wenn ich in diesem sinnlosen Krieg mein Leben lassen muss, dann soll es zu Ehren unserer toten Väter geschehen, deren Feinde nicht mehr erlangen können als ihren Sieg in einem weiteren Blutbad. Euer Tod dagegen wäre nicht nur sinnlos, er würde auch verhindern, dass das Geheimnis der Weisen enthüllt wird, um eine neue Zeit einzuläuten. Denn nur dann wird die Weisheit endlich aus ihrer Asche aufstehen und der Menschheit den Weg in eine uns noch unvorstellbare Zukunft weisen. Unsere Väter haben das bereits gewusst. Deshalb haben sie auch geglaubt, dass die Zeit reif sei, das Geheimnis der Weisen zu suchen. Dieses Wissen haben sie mit dem Leben bezahlt. Nur ihr, du und Grimpow, könnt vollbringen, was sie nicht mehr beendet haben, so sehr es ihnen auch am Herzen lag. Ihr habt die Karte des Unsichtbaren Weges gefunden. Sie wird euch leiten, so wie uns Aidor Bilbicums Handschrift bis hierher geführt hat.«
»Wohin sollen Grimpow und ich denn gehen? Wir haben die Karte bisher nicht deuten können. Deshalb wissen wir auch nicht, welche Richtung wir einschlagen müssen«, sagte Weynelle und fügte sich in ihr Schicksal. Obwohl die Aussicht auf eine Trennung von Salietti ihr das Herz zu brechen drohte.
»Nehmt von den vielen Geheimgängen unter der Burg jenen, der nach Westen führt. Wenn ihr wieder ans Tageslicht kommt, dann setzt euren Weg in dieselbe Richtung fort, bis ihr auf die Straße nach Metz stoßt. Ihr müsst jetzt sofort aufbrechen, damit ihr noch vor Einbruch der Dunkelheit vor den Stadttoren seid. Sobald ihr in Metz eintrefft, haltet Ausschau nach dem achteckigen Turm einer stillgelegten Kapelle des verfolgten Templerordens. Grimpow soll dann vortäuschen, von einem Leiden gequält zu werden, und du erkundigst dich nach einem Medikus namens Humius Natz in der Nachbarschaft. Er ist Herzog Ulf in treuer Freundschaft verbunden. Ihr braucht ihm bloß zu sagen, dass euch der Herzog schickt, dann wird er euch freundlich aufnehmen. Ihr könnt euch vorbehaltlos auf ihn verlassen.«
»Wann sehen wir dich wieder?«, wollte Weynelle zutiefst betrübt wissen.
»Wartet dort zwei Tage auf mich. Wenn ich am Morgen des dritten Tages nicht erschienen bin, dann zieht ohne mich weiter. Nehmt diesen Beutel Gold mit, ich habe hier keine Verwendung dafür, aber euch kann er in der Not eine Hilfe sein. Geh jetzt und sage Grimpow Bescheid. Kommt dann rasch in den Waffenhof hinunter, wo eure Pferde bereitstehen werden. Ich werde euch zu den unterirdischen Gängen führen und danach zur Schlacht zurückkehren«, sagte Salietti.
Grimpow konnte den Beschluss seines Freundes, in der Festung zu bleiben, nicht nachvollziehen. Vor dem
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