Grimpow Das Geheimnis der Weisen
geistigen Auge des Knappen tauchte immer wieder der Albtraum auf, den er in Jan Hinkebeins Herberge gehabt hatte. Er fürchtete, dass er ein schlechtes Vorzeichen war und den nahen Tod des Freundes ankündigen könnte. Wenn sein Freund mit Herzog Ulf und dessen Rittern in der Festung blieb, dann würde er sehr wahrscheinlich mit ihnen in der Schlacht ums Leben kommen. Grimpow bekniete ihn, mitzukommen und mit Weynelle und ihm die Suche nach dem Geheimnis der Weisen fortzusetzen. Aber Salietti war nicht von seinem Entschluss abzubringen.
Der Ritter hielt im Waffenhof die Pferde am Zaum, die wegen des Gepolters und der Flammen rundherum nur mit großer Mühe zu beruhigen waren. Überall liefen Bogenschützen über die Galerien der ringförmigen Wehrmauern und leerten im Handumdrehen ihre Köcher. An mehreren Stellen bildeten die Soldaten Menschenketten und schütteten einen Eimer Wasser nach dem anderen auf die brennenden Vordächer und Galerien. Herzog Ulfs Ritter verstärkten die Mauern und Türme im Westen und mussten mit dem Schwert schon die ersten Nahkämpfe gegen die Angreifer austragen, die mit Haken und Strickleitern die Zinnen erklommen. Ab und zu legte sich ein dumpfes, finsteres Grollen wie das Röcheln eines erbarmungslosen Ungeheuers über die Burg, alsdann schlugen große Ladungen von brennenden Felsbrocken auf Mauern und Dächer ein und sprengten sie in Stücke.
Die drei Freunde betraten einen langen, tiefen, von mächtigen Fackeln beleuchteten Gang und stiegen darin ins Erdinnere hinunter, bis sie sich in einer großen, extrem hohen, runden Grotte voller Stalaktiten wiederfanden, die wie Sterne über ihren Köpfen funkelten. Im Boden der Grotte war mit farbigen Steinsplittern ein Mosaik in Form einer Windrose eingelassen, ähnlich der, die sie in der versiegelten Kammer vorgefunden hatten. Sie gab die acht Richtungen der Geheimgänge vor. Jeder Gang führte zu einer der acht Burgen des Steinkreises, die um Herzog Ulf von Österbergs Festung herumlagen, und jenseits davon bis zum Ende des Tals.
Grimpow fragte sich, wer diese endlosen Stollen, die ihn an die dunklen Gänge eines riesigen Tierbaus erinnerten, wohl ausgehoben haben mochte.
»Warum fliehen nicht alle Bewohner durch diese Löcher und kehren der Schlacht den Rücken, bevor die Festung endgültig verloren ist?«, fragte Grimpow in einem letzten Versuch, Salietti umzustimmen.
»Mein lieber Freund, nicht immer wählt ein Ritter sein Schicksal selbst«, erwiderte dieser.
Er trat auf seinen Freund zu und umarmte ihn innig. Danach wandte er sich Weynelle zu und umschloss ihre Lippen mit den seinen. Ihr Atem verband sich und sie verschmolzen miteinander, als wollten sie durch ihre Münder gleichsam ihre Seelen austauschen. Salietti ahnte, dass dieser Kuss die letzte Erinnerung an seine Liebste sein könnte.
»Ihr müsst euch jetzt aufmachen«, sagte er dann traurig und löste sich aus Weynelles Armen. »Zieht nach Metz, indem ihr immer gegen Westen reitet. Und vergesst nicht: Wenn ich am Morgen des dritten Tages nicht im Haus von Humius Natz erschienen bin, dann wartet nicht länger, sondern brecht auf und folgt dem Unsichtbaren Weg.«
Mit diesen Worten schlug er ihren Pferden auf die Hinterhand, damit weder Grimpow noch Weynelle sahen, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen.
Herzog Ulf und seine Ritter kämpften noch immer auf dem westlichen Mauerring, als Radogil de Curnillonn mit Warngeschrei auf sie zustürmte. Ein großer Trupp Söldner hatte unter Valdigor de Rovols Führung die Schießscharten der vorgelagerten Festungsmauern eingenommen und war im Begriff, die untere Burg zu stürmen. Damit würden sie Tausenden von Soldaten, die mit riesigen Rammböcken und hoch aufragenden Sturm türmen vor dem Burggraben standen, den Weg zur höher gelegenen Festung öffnen.
Salietti entdeckte seine Leute im großen Waffenhof und schloss sich mehreren Hundertschaften von Rittern an, darunter zahlreiche Templer, die gemeinsam unter Herzog Ulfs Kommando zur unteren Burg eilten, um sie zurückzuerobern. Denn wenn es Valdigor de Rovols Söldnern erst gelang, die Ziehbrücke herabzulassen, dann war die vorgelagerte Burg für immer verloren.
Die Bogenschützen zogen sich geordnet in die zweite Kampflinie hinter der Mauer zurück. Von dort wehrten sie mit ihren Pfeilen das weitere Vorrücken der Angreifer ab, die zu Dutzenden den Steilhang emporstürmten und die Schießscharten einnahmen, wenngleich etliche von ihnen in die Brust, den Hals oder die
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