Grimpow Das Geheimnis der Weisen
und Weynelle reisten den ganzen Tag in Richtung Westen, ohne ein einziges Mal zum Essen oder Rasten anzuhalten und fast ohne ein Wort zu sprechen. Beide waren sie traurig und voller Sorge über Saliettis Schicksal und fürchteten, ihn nie wiederzusehen. Nicht einmal die Tatsache, dass sie der versiegelten Kammer lebend entronnen waren und die wunderliche Karte des Unsichtbaren Weges gefunden hatten, regte sie zu einem Gedankenaustausch an. Der Ritter war nicht bei ihnen und sie konnten an nichts anderes denken. Die beiden Tage und Nächte des Wartens bei Medikus Humius Natz würden ihnen gewiss lang werden und überschattet sein von der Ungewissheit, Angst und Hoffnung, ob Salietti vor Anbruch des dritten Tages wohlbehalten in Metz zu ihnen stieß.
Nachdem sie sich in der Grotte unter Herzog Ulf von Österbergs Festung von ihrem Freund verabschiedet hatten, waren sie einem langen, nur von ihren Fackeln erhellten Gang gefolgt. An den Felswänden dieses dunklen Stollens schimmerten Wasserflecke und die Pferdehufe hallten darin wider, als wären sie der einzige Laut, den jene düstere, unterirdische, nie enden wollende Welt kannte. Nur ab und zu hörten sie im Vorbeireiten die Fledermäuse aufflattern, wenn der Schein der brennenden Kienspäne die Tiere aus ihren Schlupfwinkeln aufscheuchte.
Den Hades in der griechischen Mythologie, das Reich des gleichnamigen Gottes der Unterwelt, stellte sich Grimpow genauso finster und unheilvoll vor wie diesen Schach t. In der Bibliothek der Abtei Brinkum hatte er davon gelesen und wusste, dass Hades der Bruder des Zeus und des Poseidon war. Die drei Götter hatten, nachdem die Titanen besiegt waren, die Welt unter sich aufgeteilt. Zeus sollte fortan der Himmel gehören, Poseidon das Meer und Hades schlug sein Reich in der Unterwelt auf, in der Hölle also. Der französische König und Fenio de Vokko hatten beim Sturm auf die Burgen des Steinkreises im Grunde Ähnliches vor, dachte der Junge. Der König von Frankreich trachtete wahrscheinlich eher nach dem wunderkräftigen Gegenstand, während der Baron zufrieden das herrliche Tal mit den Burgen des Steinkreises zu seinen Ländereien hinzunehmen würde. Ritter Valdigor de Rovol hatte er die Festung auf dem Tafelberg versprochen, sodass dieser zum Herrn über die Unterwelt würde, durch die sie gerade ritten.
Die fahle Abendsonne begrüßte sie am Ausgang des unterirdischen Ganges, ehe sie hinter einem felsigen, mit großen Eichen bestandenen Berg unterging. In der Ferne sahen sie einen wasserreichen Fluss wie einen silbernen Spiegel funkeln. Daneben hoben sich am westlichen Horizont die Dächer und Türme einer kleinen, von einer Mauer umschlossenen Stadt ab.
Sie betraten Metz durch das Osttor, dessen Türme sich über die Flussbrücke erhoben. Eine Schar Bauern kehrte gerade von der Feldarbeit zurück und zog mehrere mit Kornbündeln beladene Esel hinter sich her. Grimpow und Weynelle ritten durch das Tor in die Stadt und entdeckten über deren Dächern alsbald die Türme der Kathedrale und einiger anderer Kirchen, auf deren Glockentürmen Störche nisteten. Auf einem von vornehmen Wohnhäusern mit Arkaden umschlossenen Platz trafen sie auf eine Gruppe Damen. Die in vornehme Kleider und zarte Farben gekleideten Edelfrauen plauderten angeregt und strebten zur Abendmesse auf die Kathedrale zu. Neugierig beäugten sie die beiden Fremden und tuschelten miteinander.
Weynelle ging auf die kleine Schar zu und fragte nach dem Haus von Medikus Humius Natz. Sie behauptete, dessen Hilfe zu benötigen, weil ihr Bruder an Schwindel und Übelkeit litte. Grimpow stellte sich indessen so krank, als hätte ihn die Pest befallen. Die Frauen wichen erschrocken zurück, denn sie fürchteten, sich an einer unheilbaren Krankheit anzustecken. Aber eine von ihnen, eine vornehme Frau mit schwarzem Haar und munteren Augen, fasste sich ein Herz und gab Weynelle Auskunft. Sie sollten den Platz über eine Seitengasse der Kathedrale verlassen und die nächste Straße rechts abbiegen, dann kämen sie zur Kapelle der Templer. Dort sollten sie der schmalen Gasse gegenüber des Turms folgen und beim vierten Haus auf der linken Seite an die Pforte schlagen.
Die Erinnerung an Bruder Rinaldo von Metz war schon in Grimpow aufgestiegen, als sie die Brücke vor den Toren der Stadt überquert hatten. Aber als sie nun vor der verriegelten Kapelle des geächteten Templerordens standen, kam richtig Leben in das geistige Bild des alten Gelehrten mit den wimpernlosen
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