Grimpow Das Geheimnis der Weisen
dem Leben bezahlt. Das Bestreben vieler Weiser, gesicherte Kenntnis über die Geheimnisse der Welt zu erlangen, ist dagegen etwas anderes. Sie sind die wahren Alchimisten, die im Stein der Weisen das Ideal vollkommener Weisheit suchen.«
»Glaubt Ihr, dass es den Stein der Weisen wirklich gibt?«, fragte Grimpow.
»In zahlreichen alten Texten ist von der geheimnisvollen Kraft des lapis philosophorum die Rede. Deshalb träumen viele davon, einen solchen Stein in ihrem Laboratorium herzustellen. Ich dagegen neige zu der Annahme, dass diese Umwandlung nur ein Sinnbild für das wahre Wesen des Menschen ist, also nichts anderes als das Streben nach umfassendem Wissen.«
»Dann glaubt Ihr also, dass der echte Stein der Weisen gar kein Stein ist?«, hakte Grimpow nach. Er konnte die Antwort des Mönchs kaum erwarten, denn dessen Erklärung stimmte haargenau mit dem überein, was er selbst vermutete, seit Durlib ihm in den Bergen das Amulett zugeworfen hatte.
»Wer weiß?«, fragte der alte Mann zurück. Er hob den Blick zur Holzdecke, als suchte er die Antwort über dem Dach der Abtei und versetzte sich in Gedanken in den unendlichen Nachthimmel. Dann fuhr er mit ruhiger Stimme fort: »Fest steht nur, dass kein Weiser, ob Alchimist oder nicht, je seine genaue Natur beschrieben hat, auch wenn einige in der Kunst der Verwandlung Erfahrene versichern, der Stein der Weisen sei rot wie die Glut des Feuers und funkle in der Dunkelheit wie ein Stern.«
Genau das war bei dem Stein - oder um welch wunderkräftigen Gegenstand es sich auch handelte - der Fall. Deshalb fragte Grimpow: »Habt Ihr irgendwann einmal versucht, den Stein der Weisen nach den hier beschriebenen Verfahren herzustellen?« Er deutete mit dem Kinn auf die Handschrift.
»Ich hätte nicht die Geduld, die lange, ungewisse Warterei zu ertragen, und das trotz meiner Leidenschaft für die Sternkunde, für deren Ausübung nun mal Zeit vonnöten ist«, antwortete der Mönch lächelnd. »Aber ich schwöre bei Gott, dass Bruder Arben es in seinem kleinen Laboratorium seit Jahren versucht. Er hat schon alle Formeln, Rezepturen und Kniffe ausprobiert, die er in den verbotenen Büchern gefunden hat. Nur hat er, seit ich ihn kenne - und das sind mittlerweile viele Jahre - nie mehr als ein paar Goldtinkturen erhalten, und zwar solche, wie sie die Priester im alten Ägypten schon vor Jahrhunderten für ihre Beisetzungen und Einbalsamierungen herstellten. Und darüber hinaus den einen oder anderen köstlichen Kräuterlikör, den vor allem Bruder Brasco zu schätzen weiß«, schloss er fröhlich.
»Kann ich denn mit Bruder Arben sprechen, sobald ich hier herauskomme? «
»Mit Sicherheit. Er wird begeistert sein von einem jungen, leidenschaftlichen Schüler, der ihm bei seinen Experimenten zur Hand gehen kann.«
Dann setzte der alte Mönch den verborgenen Mechanismus am Regal in Bewegung und verließ das Geheimkabinett wie ein Gespenst, das durch Wände schwebt, ohne gesehen oder gehört zu werden.
Ein Schrei in der Nacht
I n der Nacht vernahm Grimpow einen Schrei, der sich anhörte wie das ferne Aufheulen eines wilden Tieres. Was in der Abtei tatsächlich vorgefallen war, sollte er jedoch erst am nächsten Morgen erfahren.
Nach dem Läuten der Turmglocken zur Matutin hatten sich alle Mönche im Chor der Kirche eingefunden und schläfrig auf die Ankunft des Abtes gewartet, um die Psalmen anzustimmen. Da er sonst nie zu spät kam, warfen sich die Novizen bereits befremdete, unruhige Blicke zu. Den älteren Mönchen entging ihr Gebaren nicht, auch wenn sie ins Gebet versunken oder noch halb im Tiefschlaf waren, aus dem man sie soeben im Schlafsaal gerissen hatte. Bruder Rinaldo stand von seiner Bank auf, um das anschwellende Gemurmel mit einer Handbewegung zum Schweigen zu bringen, als der Entsetzensschrei Kenos die Stille in der Abtei in tausend Stücke riss.
Unter wirrem, alarmiertem Geschrei sprangen alle Mönche von ihren Plätzen im Chorraum auf und liefen zum Kreuzgang. Vor den Gemächern des Abtes fanden sie Keno. Er lag auf dem Boden, von heftigen Krämpfen geschüttelt, und hatte vor Schreck die Augen weit aufgerissen. Bruder Rinaldo rüttelte ihn wie einen Sterbenden und fragte mehrmals, was denn vorgefallen sei. Er erhielt jedoch nur unverständliches Gestammel zur Antwort, vermischt mit dem Speichel, der dem zahnlosen Diener aus dem Mund lief. Ein junger Mönch lief ins Studierzimmer des Abtes und kehrte kurz darauf mit angstverzerrtem Gesicht
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