Grimpow Das Geheimnis der Weisen
zurück.
»Sie haben den Abt geköpft! Sie haben den Abt geköpft!«, schrie er und bekreuzigte sich dabei, als hätte er den Leibhaftigen persönlich zu Gesicht bekommen.
Daraufhin betrat Bruder Arben, gefolgt von Bruder Brasco und einigen anderen Mönchen, die am längsten im Kloster lebten, die Abtgemächer. Währenddessen drängten sich die übrigen Männer an der Tür zusammen, murmelten entsetzt vor sich hin und reckten die Hälse, um einen Blick auf die makabre Szene zu erhaschen.
Der Abt saß, den Kopf in grotesker Verrenkung auf der rechten Schulter, mit einem Ausdruck des Grauens im Gesicht an seinem Schreibtisch, während seine verdrehten Augen ins Leere starrten. Ein sauberer Schnitt hatte ihm die Kehle durchtrennt und Fleischfetzen und Hautlappen freigelegt, über die unentwegt Blut sprudelte. Seine Kutte war schon völlig durchgeweicht und auf dem Boden hatte sich eine dunkle Lache gebildet.
Bruder Rinaldo war draußen geblieben und kümmerte sich um den noch immer von Krämpfen geplagten Keno. Nachdem der Mönch mit seinen langen Fingern verhindert hatte, dass der Fallsüchtige an seiner Zunge erstickte, wies er einige andere Diener an, Keno in die Krankenstube zu bringen. Dann bahnte er sich einen Weg durch die Männer, die den Zugang zu den Gemächern des Abtes versperrten, und sah gerade noch, wie Bruder Arben dem Toten die Augen zudrückte und über dessen Lidern mit dem Daumen ein kleines Kreuz schlug. Ihm war sofort klar, dass hinter diesem abscheulichen Verbrechen nichts anderes steckte als die Absicht, dem Abt für immer den Mund zu versiegeln.
Seit der Ankunft des päpstlichen Gesandten mit den Schergen des französischen Königs hatte Bruder Rinaldo dessen gesamte privaten Unterredungen mit dem Abt belauscht. Er hegte nämlich den Verdacht, dass der Besuch des Inquisitors von Lyon kein Zufall war. Anfangs hatte er sogar befürchtet, der ruchlose Dominikanermönch könne hinter ihm selbst her sein. Dabei dachte er weniger an seine Vergangenheit als Tempelritter denn an die ketzerischen Theorien der aufmüpfigen Bettelmönche, die er selbst in mehreren Büchern verteidigt hatte. Er hatte sie alle während der letzten Jahre in der Abtei verfasst. Für ihn stand eindeutig fest, wer den Abt ermordet hatte und dass er erbarmungslos geköpft worden war, damit er niemandem von der Absicht des Papstes und des französischen Königs erzählen konnte, sich das Geheimnis der Weisen zu eigen zu machen.
Kurz darauf erschienen Burumar de Gostelle und die Soldaten des Königs in den Gemächern des Abtes. Als die Mönche das metallische Klirren der Schritte unter den dunklen Bögen des Kreuzgangs vernahmen, traten sie zur Seite. Sie stimmten für die Seele ihres ermordeten Bruders einen Trauergesang an, der sich in der Dunkelheit wie ein Raunen der Götter anhörte.
»Wer auch immer der Täter ist, er kann geschickt mit einem arabischen Dolch umgehen«, verkündete der Inquisitor, nachdem er kühl und ungerührt den durchtrennten Hals des Abtes betrachtet hatte. Zugleich sah er sich um, als erwartete er, den Mörder unter den anwesenden Mönchen zu entdecken.
»Wie könnt Ihr so sicher sein, dass der Mörder den Abt mit einem arabischen und nicht mit einem christlichen Dolch geköpft hat?«, fragte Bruder Rinaldo.
»Wenn Ihr einmal im Heiligen Land gekämpft hättet, wüsstet Ihr so gut wie ich, wie die Ungläubigen die Christen köpfen.«
Dem alten Mönch war sehr wohl bekannt, mit welcher Grausamkeit Christen und Muslime sich im Namen des barmherzigen Gottes gegenseitig töteten, aber er bewahrte lieber Stillschweigen über seine dramatischen Erlebnisse während der Kreuzzüge.
»Wollt Ihr damit sagen, ein Mönch dieser Abtei habe den Abt mit dem Dolch eines Ungläubigen geköpft?«, fragte er.
»Viele Kreuzritter, darunter auch die Mönchssoldaten des Templerordens, haben gelernt, ihre Feinde nach der Art der grausamen islamischen Krieger der Assassinen-Sekte zu köpfen. Ihnen genügt ein einziger Schnitt mit ihrem scharfen Dolch, um einem christlichen Ritter die Kehle zu durchtrennen.«
Bruder Rinaldo ließ sich von Burumar de Gostelles Überheblichkeit nicht einschüchtern. »Dann sucht den Mörder nicht unter uns, sondern unter den Waffenträgern«, fuhr er ihn an. »Welchen Grund sollten wir haben, unseren besten Bruder zu töten?«, setzte er herausfordernd hinzu.
»Denselben, aus dem Kain Abel getötet hat«, antwortete der Dominikaner mit verhaltenem Zorn. Er versuchte, Güte
Weitere Kostenlose Bücher