Grimpow Das Geheimnis der Weisen
deren Wissen und Unterricht streng geheim blieb. Da fielen ihm die Bilder wieder ein, die er vor einigen Tagen im Traum gesehen hatte, als er im Pilgersaal der Abtei geschlafen hatte: Zahlen über Zahlen und mathematische Formeln, vermischt mit wirren Theorien über die Natur und das Universum. Ohne zu wissen warum, ahnte Grimpow, dass der Stein des toten Edelmannes irgendetwas mit diesen rätselhaften Weisen des Altertums zu tun hatte.
Seine Vermutung bestätigte sich eines Nachmittags, als er nach dem Mittagessen Bruder Arben in der Krankenstube aufsuchte, während es draußen friedlich schneite. Schon seit Tagen schien die Abtei wieder in ihren ruhigen, stillen Alltag zurückgefunden zu haben, fern vom Aufruhr und den Ängsten, welche die kaltblütige Ermordung des Abtes bei den Mönchen ausgelöst hatte. Alle waren an ihre Arbeit und ihre Gebete zurückgekehrt, auch der junge Mönch, der sich den Knöchel gebrochen hatte, wie Grimpow feststellte, als er an dessen leerem Bett vorbeiging.
Auf dem Weg zum Laboratorium durchquerte er gerade die Krankenstube, da vernahm er hinter sich eine tiefe Stimme, die ihn wie ein Schlangenbiss lähmte.
»Dieser Stein kann dich eines Tages das Leben kosten!«
Grimpow drehte den Kopf und stellte fest, dass sich außer Bruder Umberto von Alessandria und ihm niemand im Raum befand. Demzufolge musste der blinde Mönch das Wort an ihn gerichtet haben, auch wenn der Junge das Gesicht des Hundertjährigen wegen der vielen Decken, die ihn vor der Kälte schützten, nicht sehen konnte.
»Was wollt Ihr damit sagen? Ich verstehe Euch nicht«, erwiderte Grimpow und blieb neben Bruder Umbertos Bett stehen.
Seine Verwirrung hing in der Luft wie eine verhexte Wolke und löste sich erst auf, als die Stimme des bettlägerigen Mönchs den Zauber brach.
»Mich kannst du nicht hinters Licht führen«, antwortete er.
»Seit ich zum ersten Mal deine Schritte in dieser Stube gehört habe, wo sogar das Siechtum für mich unsichtbar ist, wusste ich, dass du den Stein bei dir trägst. In der undurchdringlichen Finsternis meiner Blindheit nahm ich sein Licht wahr wie das Funkeln eines Sterns in tiefer Nacht. Seither habe ich auf den richtigen Moment gewartet, um mich allein mit dir zu unterhalten.«
»Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht. Vielleicht täuscht Ihr Euch«, entgegnete Grimpow. Der blinde Mönch konnte unmöglich erraten haben, dass er in dem Leinensäckchen unter seinem Wams den Stein versteckt trug.
»Ich spreche über den Stein der Weisen, den lapis philosophorum , wenn du ihn lieber so nennen willst«, gab der alte Mönch nüchtern zurück.
»Ich besitze keinen Stein und schon gar nicht den Stein der Weisen der Alchimisten«, beharrte der Junge und setzte sich auf das Nachbarbett. Er wollte das ausdruckslose Gesicht des hundertjährigen Mannes, das fast vollständig von einem langen weißen Bart bedeckt war, besser sehen können.
»Jetzt kann ich ihn noch deutlicher spüren, es nützt dir nichts, das Offensichtliche abzustreiten«, stellte der Blinde zufrieden fest.
Bruder Umberto von Alessandria bewegte beim Sprechen nur die Lippen, seine Miene und der Körper blieben reglos. Wenn er schwieg, kam es Grimpow deshalb so vor, als unterhielte er sich mit einem Toten.
»Ich glaube, Ihr sprecht im Delirium, ich sage lieber Bruder Arben Bescheid, damit er Euch Eure Arznei bringt«, erwiderte der Junge ausweichend.
»Mein einziges Delirium hat darin bestanden, diesen Stein so sehr begehrt zu haben, dass er mich ganz verrückt gemacht hat«, widersprach der alte Mann eindringlich.
»Ich sehe schon, in Wirklichkeit habt Ihr den Verstand verloren, denn Ihr sprecht vom Stein der Weisen, als handelte es sich um eine schöne Dame, der Ihr Eure Liebe geschenkt habt.«
»Mein Begehren wäre nicht so groß gewesen, wenn es sich um eine Frau gehandelt hätte. Ich habe mein Keuschheitsgelübde treu befolgt, die Fleischeslust hat mich nie in Versuchung führen können«, versetzte der Mönch.
»Wenn Ihr aber den Stein der Weisen gesucht habt, bis Ihr das Augenlicht und den Verstand verloren habt, wart Ihr Eurem Armutsgelübde nicht wirklich treu. Was hattet Ihr denn mit dem Gold im Sinn, das Ihr in Eurem Laboratorium hergestellt hättet?«, fragte Grimpow, um den Kranken aus der Reserve zu locken. Wenn der Mönch ihm einfach so auf den Kopf zusagen konnte, dass er den Stein der Weisen besaß, musste er auch allerhand darüber wissen.
»Gold ist nichts im Vergleich zur Macht Gottes!«,
Weitere Kostenlose Bücher