Grimpow Das Geheimnis der Weisen
antwortete dieser erregt und rührte sich zum ersten Mal unter seinen Decken. Dann beruhigte er sich wieder und fuhr fort: »Es gab eine Zeit, in der ich den lapis philosophorum mit dem reinen Herzen eines begabten Schülers besessen habe. Es gab keine Frage, die ich nicht beantworten konnte, und kein Geheimnis, das ich nicht mit meinem Verstand ergründete. Es war, als wäre ich in den Himmel aufgestiegen und hätte mich direkt neben Gott gesetzt, um mich am Anblick eines Universums ohne Geheimnisse zu erfreuen. Plötzlich war mir alles erklärlich und begreiflich, wie es zu Beginn für den Schöpfer gewesen sein muss.«
Seine Beschreibung erschien Grimpow zumindest nicht völlig abwegig, denn beim Studium der Handschriften in der Bibliothek hatte er die Zauberkraft des Steins am eigenen Leib gespürt. Es war, als enthüllte er ihm auf Anhieb das gesamte Wissen der Menschheit, das bereits bekannte ebenso wie das noch zu entdeckende. Es stand also außer Zweifel, dass Bruder Umberto von Alessandria genau wusste, wovon er sprach.
»Demnach ist es Euch gelungen, vollkommene Weisheit zu erlangen?«, fragte Grimpow, während er durch ein Fenster beobachtete, wie die Dämmerung in feurigen Farben über das Tal hereinbrach.
»Nicht ganz, aber doch genug, um in meinem Leben nichts anderes zu begehren. Solange ich den Stein in der Absicht benutzt habe, Weisheit zu erlangen, habe ich unermüdlich über alle Wissensgebiete geschrieben, von der Astronomie bis hin zur Mathematik und Geometrie, Philosophie, Alchimie, Medizin, Botanik, Mineralogie und Musik... Die zutreffendsten Überlegungen und die komplexesten Thesen haben sich in Reichweite meiner Feder befunden wie die Früchte eines Baumes in Reichweite meiner Hand. Das alles habe ich allein dem Stein der Weisen zu verdanken. Er war meine wahre Triebfeder und meine einzige Inspiration.«
»Zumindest seid Ihr ein Weiser geworden. Ich habe in der Bibliothek viele von Euch verfasste Bücher entdeckt«, erwiderte Grimpow.
»Ja, man könnte sagen, dass ich ein Weiser geworden bin, der genauso blind war wie der Armseligste unter den Unwissenden.«
»Habt Ihr einen Fehler begangen?«
»Irgendwann hat mich der Ehrgeiz gepackt und ich wollte den Stein benutzen, um Gold herzustellen und Unsterblichkeit zu erlangen. Ich war so besessen von dem Gedanken, mich mit Reichtum zu umgeben und die künftigen Epochen der Welt mit eigenen Augen mitzuerleben, ohne dass mein Körper altert, dass ich alle meine Grundsätze und Überzeugungen verraten habe.«
»Was ist dann geschehen?«, fragte Grimpow neugierig.
»Die Steine, die ich herstellen konnte, sind mir zwischen den Fingern zerbröselt, sobald ich sie aus dem Glaskolben geholt habe. Mein Hochmut und meine Habgier trieben mich dazu, mich Tag und Nacht ins Laboratorium der Abtei zurückzuziehen und nicht mehr zu schlafen. Bis ich eines Morgens die Umwandlung beschleunigen wollte und einen Destillierkolben so stark erhitzte, dass er vor meinen Augen zerbarst und mir für immer die wunderbare Gabe des Sehens nahm.«
»Ich weiß, Bruder Arben hat mir erzählt, was Euch zugestoßen ist. Aber es war nur ein Unfall, der jedem Alchimisten passieren könnte«, erwiderte Grimpow, um den Kranken zu trösten.
»Mag sein«, räumte der hundertjährige Mönch ein, »aber das ändert nichts an der Tatsache, dass mein Augenlicht verloren ging und mit ihm mein ganzer Fhrgeiz. Ich liege seit über zwanzig Jahren in diesem Bett, ohne ein anderes Licht zu sehen als das meines Geistes und ohne andere Gesellschaft als die meiner Erinnerungen. In all den Jahren habe ich nichts anderes getan, als an den Stein der Weisen zu denken, um sein Geheimnis zu ergründen. Jetzt weiß ich, dass man ihn in keinem anderen Laboratorium herstellen kann als in dem der Seele. Wenn man das vergisst, richtet er einen zugrunde, so wie es mir und vielen anderen passiert ist, die ihn um jeden Preis besitzen wollten. In ihm steckt nämlich Gutes und Böses, so wie in allen Dingen des Lebens.«
»Warum sagt Ihr, man könne den Stein der Weisen nicht in einem Laboratorium herstellen? Ist das denn nicht das eigentliche Anliegen der Alchimie?«, fragte Grimpow. Er konnte Bruder Umbertos Überlegungen einfach nicht nachvollziehen.
»Genau davon berichten die Legenden und wirren Abhandlungen derjenigen, die nie bis zum wahren Geheimnis der Weisen vorgedrungen sind. Das solltest du ebenso gut wissen wie ich«, antwortete er.
»Nein, das weiß ich nicht«, widersprach Grimpow
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