Grimpow Das Geheimnis der Weisen
verwirrt. »Warum sagt Ihr es mir nicht einfach?«
Der blinde Mönch schien zu zweifeln, aber nach einigen Augenblicken tiefen Schweigens erklärte er: »Der einzige Stein der Weisen, den es je gegeben hat, ist derjenige, der vor mehr als zweitausend Jahren im Besitz babylonischer, ägyp tischer und griechischer Magier war. Diesen Stein besaßen die Weisen des Altertums wie Thaies von Milet, Pythagoras, Homer, Parmenides, Ptolemäus, Sokrates, Plato, Aristoteles und all die Jünger, die ihnen in ihren Schulen und Geheimbünden nachfolgten. Seither haben sich die Menschen nie wieder so sehr bemüht, die Welt zu erklären. Unsere Zeit ist finster und verkommen, beherrscht von Angst und Aberglauben, Hunger und Armut, Krankheit und Tod«, verkündete er wie ein mutloser Prophet.
Es bereitete Grimpow große Freude, aus Bruder Umbertos Mund die Namen all der griechischen Weisen zu hören, deren Schriften er in der Klosterbibliothek studiert hatte. Also fragte er: »Und wie gelangte der Stein in die Hände dieser Weisen?«
»Wenn man das wüsste, gäbe es kein Geheimnis zu enthüllen. Ich bezweifle sehr, dass sie es irgendwann selbst in Erfahrung gebracht haben. Die Lösung dieses Rätsels liegt über den Sternen«, schloss Bruder Umberto von Alessandria.
Grimpow sollte seine Stimme nie wieder hören.
Das Gold der Alchimisten
D ie Tage verstrichen genauso langsam, wie im Herbst die Blätter fallen, und mit ihnen ging der Winter und kam der Frühling. Irgendwann setzte das Tauwetter ein, das die warme Jahreszeit ankündigte. In der Abtei lagen keine Schneereste mehr und auf den nahen Wiesen spross bald darauf das Gras und überzog die Berghänge mit leuchtendem Grün.
Mit der Ankunft des Frühlings veränderte sich auch Grimpows Tagesablauf. Er studierte nach wie vor jeden Vormittag von der Prim bis zur Terz bei Bruder Rinaldo in der Bibliothek. Danach lief er in den Stall, sattelte das Pferd des Templers, das er wegen seines weißen Fells und seiner glänzenden himmelblauen Augen Astro getauft hatte, und ritt zu den Wasserfallen im Tal oder zu den Gletschern hinauf, um von dort den Horizont abzusuchen. Er vermisste Durlib so sehr, dass er nie die Hoffnung aufgab, seinem Freund dabei zu begegnen, wie er in den umliegenden Wäldern seine Kaninchenfallen aufstellte, so wie er es jeden Morgen getan hatte, solange sie in der Hütte gelebt hatten.
Seit ihrer Trennung hatte es keinen einzigen Tag gegeben, an dem Grimpow nicht an ihn dachte. Auf diese Weise, überlegte er, würde er nie Durlibs Gesicht vergessen. Er wollte nicht, dass es ihm erging wie mit Bild seiner Mutter und seiner Schwestern, das die Zeit irgendwann getilgt hatte, sosehr er sich auch bemühte, sich ihre lieblichen Züge und ihr unbändiges Lachen ins Gedächtnis zu rufen. Er fühlte sich wie ein dem Schicksal überlassenes Waisenkind, obwohl ihm die Mönche ihre Aufmerksamkeit und Fürsorge zuteilwerden ließen. Besonders Bruder Brasco, der Koch, behandelte ihn wie einen zarten adligen Novizen, dem es an nichts fehlen durfte.
Dabei war Grimpow nur ein Junge, dem die Abtei in ihren Steinmauern Unterschlupf gewährte, ohne im Gegenzug dafür von ihm zu verlangen, dass er die Ordensgelübde ablegte. So hatten es die Mönche beschlossen, als sie sich nach der Ermordung des Abtes im Kapitelsaal versammelten, um einen Nachfolger zu ernennen und über die Angelegenheiten der Abtei zu beraten - darunter auch Grimpows Zukunft als Novize.
Einige schlugen vor, der Junge solle die braune Kutte anlegen und wie jeder andere junge Mönch die Schweigeregel und die Stundengebete einhalten, aber Bruder Rinaldo hielt es für angemessener, wenn Grimpow sich zumindest einige Monate lang dem Studium in der Bibliothek widmete und Bruder Arben in der Krankenstube zur Hand ging. Wenn es dann seinem Wunsch und seiner Berufung entspreche, könne er sich jederzeit für die Novizenkutte entscheiden, sobald er von sich aus die Ordensgelübde ablegen wolle. Bruder Rinaldos Vorschlag fand bei allen Zustimmung und auch der neue Abt bekräftigte ihn. Er war ein heiter aussehender Mönch mit grauen Augen und weißem Haar, der in der Abtei wegen seiner Besonnenheit und Güte hoch geachtet war.
Grimpow nahm zwar an der Versammlung im Kapitelsaal nicht teil, konnte jedoch vom angrenzenden Raum aus die Besprechung der Mönche mithören. Sein Meister hatte ihm nämlich verraten, dass es in der Mauer eine Stelle gab, an die man nur das Ohr zu legen brauchte, um jedes Wort im Kapitelsaal
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