Grimpow Das Geheimnis der Weisen
Sehne klang wie die stumme Saite einer Mandoline, ein Pfeil sirrte durch die Luft und verschwand im Dickicht, ohne Schnur oder Stein berührt zu haben.
Die Räuber bedauerten lautstark, dass der Rotschopf das Ziel verfehlt hatte, und kommentierten untereinander, wie dicht der Pfeil an der Schnur vorbeigeflogen sei. Sein Luftzug hatte angeblich sogar das Ziel in Bewegung versetzt. Bent schlug mit der Faust in die Luft, um seiner Verärgerung Ausdruck zu verleihen, während Salietti und Grimpow erleichtert aufatmeten.
Dann war der Knappe an der Reihe. Als er sich vor der in die Erde geritzten Linie aufstellte, spürte er alle Blicke auf sich. Über den Wald senkte sich eine Stille, welche die Zeit zum Stehen zu bringen schien, und Salietti zwinkerte ihm zu, um ihm Sicherheit beim Schuss zu verleihen.
Grimpow hob den Bogen, bis er dessen Mitte vor seinem offenen Auge sah, und begann ihn langsam zu spannen, bis Schnur und Stein deutlich vor dem Zielpunkt erschienen. Er hielt einen Augenblick die Luft an, dann ließ er die Sehne los und hörte sie dumpf nachschwingen. Der Pfeil schoss mit solcher Geschwindigkeit davon, dass Grimpow ihn aus den Augen verlor, aber in fünfzig Schritt Entfernung sah er den Stein vom Baum fallen, als wäre er die schönste Mandel, die jemals ein Mensch gefunden hatte. Saliettis Jubel übertönte das Wehgeschrei der Räuber, während Drusus der Blutrünstige Grimpow den Stein zurückgab, der so eng mit seinem Schicksal verknüpft war.
Cornille in Flammen
N ach einer deftigen Mahlzeit mit Rehbraten und gekochten Pilzen verließen sie den Wald von Opernaix, ohne aus ihrem Gepäck mehr verloren zu haben als den kostbaren Dolch des Edelmannes. Salietti war überzeugt, dass sie Drusus dem Blutrünstigen wiederbegegnen würden und er den Dolch dann zurückbekäme.
»Wirst du Baron Fenio de Vokko die Nachricht des blutrünstigen Räubers überbringen?«, fragte ihn Grimpow. Sie ritten gelassen durch das Dickicht zwischen den hohen Bäumen einher, um wieder auf den Weg nach Norden zu gelangen, zu dem es nicht mehr weit sein konnte.
»Ich habe Drusus mein Ehrenwort gegeben, und ein Ehrenmann, der etwas auf sich hält, darf nicht wortbrüchig werden.«
»Der Kerl ist ein Mörder!«, protestierte Grimpow. »Er hat uns nur lebendig aus dem Wald gelassen, weil er auf die Begnadigung des Barons hofft, obwohl er dessen Großvater getötet hat.«
»Vielleicht kann ich aus meiner Unterredung mit Baron Fenio de Vokko auch irgendeinen Nutzen ziehen und ihn über sein Vorhaben aushorchen, die Burgen des Steinkreises zu stürmen.«
»Glaubst du wirklich, dass der Krieg gleich nach den Festlichkeiten beginnen wird?«
»Das werden wir bald erfahren.«
Sie ritten eine ganze Weile schweigend hintereinander her, und mit der Zeit nahmen Erdboden und Felder, Wälder und Hügel, Sümpfe und Einöden eine andere Farbe an, als streifte die Landschaft wie ein Reptil ihre alte Haut ab.
Grimpow fragte sich, was sie bei ihrer Ankunft in Baron Fenio de Vokkos Festung erwarten mochte und ob sie jemals die Tore von Straßburg durchschreiten würden. Er wusste nicht einmal, ob Jan Hinkebein, Bruder Umbertos Freund mit der Herberge »Zum Auge des grünen Drachen«, noch lebte. Schließlich hatte der blinde Mönch die Aotei seit unzähligen Jahren nicht mehr verlassen und wahrscheinlich lebte sein Freund längst nicht mehr in Straßburg.
Über der Aufregung der letzten Tage hatte Grimpow beinahe vergessen, was er in Straßburg wollte. Wenn Jan Hinkebein ihnen half, diesen Aidor Bilbicum aus dem Brief ausfindig zu machen, würde sich das Geheimnis vielleicht endlich lüften lassen, und ihre Mission würde damit enden, dass sie ihm den Brief, das goldene Petschaft und den Stein übergaben. Der Mann würde sicher wissen, was er damit anzufangen hatte, so wie alle Weisen, die ihn vor Grimpow besessen hatten.
Manchmal zweifelte Grimpow daran, ob es überhaupt ein anderes Geheimnis zu lüften gab als das wahre Wesen des Steins. Warf der Stein selbst etwa nicht genug Rätsel auf?
Unzählige Fragen schwirrten ihm im Kopf herum, während sie einen Bergrücken erklommen. Von dort oben aus entdeckten sie wieder den Weg nach Norden, der sich zwischen ausgedehnten Weinbergen und sanften Hügeln dahinschlängelte.
In der Ferne stieg eine dichte Rauchwolke bis zu den grauen, am Horizont zusammengeballten Wolken auf. Der aufkommende Westwind schien aufgeregt zu flüstern und der Himmel hatte den metallischen Glanz einer fahlen,
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