Grimpow Das Geheimnis der Weisen
wenn es gar nicht um das Tal der Sonne, sondern um das Tal der Geheimnisse geht?«
»Das Tal der Geheimnisse!«, rief Salietti aus. »Klingt nicht schlecht, vielleicht bist du tatsächlich auf die Lösung des Rätsels gestoßen. Dann wollen wir uns mal auf die Suche nach diesem Tal machen.«
»So einfach ist das bestimmt nicht«, versetzte Grimpow.
»Nein, vermutlich nicht, aber hier haben wir nun wirklich nichts mehr verloren.«
»Ich meinte das Kryptogramm.«
»Das Kryptogramm hast du doch schon entschlüsselt. Vielleicht kann dieser Aidor Bilbicum aus Straßburg uns mehr dazu sagen, wenn wir ihn überhaupt ausfindig machen können.«
Grimpow hörte Salietti nicht mehr zu. »Irgendetwas stimmt hier noch nicht. Was ist mit den Buchstaben aus dem Wort SONNE? Die haben sicher auch noch eine andere Bedeutung. Wer es sich ausgedacht hat, hat das Rätsel mit den Schriftzeichen geschützt und darin eine komplizierte Botschaft versteckt. Sie muss vollständig entschlüsselt werden, um ihre wahre Bedeutung zu erfassen«, überlegte er laut.
»Aber sie ist längst klar. Die verborgene Botschaft ergibt doch Sinn.«
In diesem Augenblick fiel Grimpow der Wortlaut des Briefes wieder ein: Im Himmel sind das Dunkel und das Licht. Da sah er mitten in der Dunkelheit einen Funken Licht.
»Ich hab's, ich hab's!«, rief er.
»Was denn noch?«, fragte Salietti. Er hatte gerade die Zügel seines Pferdes in die Hand genommen und ließ sie nun wieder sinken.
»Wir müssen aus allen Buchstaben einen neuen Text formulieren. Erst dann kommen wir auf die richtige Lösung.«
»Wieso das denn?«, protestierte der Ritter. »Ich fürchte, dieses Kryptogramm bringt dich noch um den Verstand. Wir wollen es dabei bewenden lassen und uns auf den Weg machen.«
Grimpow starrte auf das Pergament in seinen Händen. »Ich meine damit, dass alle Wörter Anagramme sind und eigentlich etwas anderes bedeuten.«
Salietti versuchte, im Geiste die Reihenfolge der Buchstaben zu verändern und Wörter mit einer anderen Bedeutung zu finden, aber Grimpow kam ihm bei der Lösung des Rätsels zuvor.
»Zum Beispiel kann man DEN STEIN daraus bilden und LEG.«
»LEG DEN STEIN. Sagenhaft!«, rief Salietti voller Begeisterung über Grimpows Schlussfolgerungen.
»Hm, mal sehen.« Grimpow ging die verbleibenden Buchstaben durch und murmelte dabei vor sich hin. Er wollte fast schon aufgeben, als plötzlich ein Strahlen seine Wangen überzog. Dann schrieb der Knappe unter den ursprünglichen Satz:
SO LEG DEN STEIN HERAN
Nun hatte er die Gewissheit, dass das rätselhafte Kryptogramm endgültig gelöst war.
»Aber um welchen Stein handelt es sich hier bloß, und wo soll man ihn hinlegen?«, fragte Salietti wieder ernüchtert. Der Lösungssatz stellte für ihn alles andere als eine Lösung, sondern lediglich ein weiteres Rätsel dar.
»Damit ist unser Stein gemeint! Er ist der Schlüssel zu dem Geheimnis«, behauptete Grimpow ohne den geringsten Zweifel.
»Der Stein?«, wiederholte Salietti.
»Ja, der Stein der Weisen. Der lapis philosophorum ist der Schlüssel zu allen Rätseln der Natur und des Kosmos. Wir müssen unseren Stein, den Schlüssel zu dem Geheimnis, an die Inschrift in der Krypta halten.«
»Du bist genial, Grimpow!«, lobte Salietti seinen Scharfsinn.
»Nicht ich bin genial, sondern der Stein«, widersprach Grimpow, überzeugt von der Geringfügigkeit seiner Verdienste.
Der Schlüssel zu dem Geheimnis
E s war niemand in der Kirche. Die Bänke im Mittelschiff standen wieder an Ort und Stelle und ein durchdringender Weihrauchgeruch reinigte die Luft rund um die auf dem Altar flackernden Kerzen.
Salietti und Grimpow suchten den Priester, fanden ihn jedoch nicht einmal in der Sakristei. Also nahmen sie sich einen Kandelaber, zündeten die Kerzen an, um den Weg in die Tiefen der finsteren Krypta auszuleuchten, und verließen die Sakristei. Sie fragten sich, welches neue Geheimnis sie wohl erwartete, wenn sie den Stein über die Inschrift hielten, und ob sie womöglich gar das Geheimnis der Weisen enträtseln konnten.
Als sie erneut in der Krypta vor der Inschrift standen, holte Grimpow den Stein aus dem Leinensäckchen, ging in die Hocke und hielt ihn in Richtung der kreisförmig angeordneten Schriftzeichen. Daraufhin nahm der ungewöhnliche Stein einen anderen Farbton an, bis er glühte wie brennende Kohle. Sachte fuhr der Knappe mit der ausgestreckten Hand über die Inschrift und wiederholte dabei im Geiste die Worte SO LEG DEN STEIN
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