Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Gritzki befand sich im Kanalviertel, das wegen der nahen Brücke und des Pöbels, der sie überquerte, als am wenigsten vornehme Ecke der Oberstadt galt. Es war ein prächtiges kleines Gebäude, das zwischen einem Kriegerdenkmal und dem Garten des Klosters von Sankta Lisaweta stand.
Maljen hatte für diesen Abend eine Kutsche leihen können und wir saßen dicht gedrängt darin, begleitet von der zutiefst missmutigen Tamar. Sie und Tolja waren mit diesem Vorhaben ganz und gar nicht einverstanden gewesen, aber ich hatte ihnen klargemacht, dass es nichts zu diskutieren gab. Außerdem hatten sie schwören müssen, die Sache für sich zu behalten, denn ich wollte nicht, dass Nikolaj auf Umwegen von meinem kleinen Ausflug erfuhr.
Wir waren alle als Wahrsager der Suli verkleidet, trugen Seidengewänder in leuchtendem Orange und rot lackierte Schakal-Masken. Tolja war nicht mitgekommen, denn er wäre durch seine Größe sogar in der besten Verkleidung aufgefallen.
Maljen drückte meine Hand und die Aufregung ließ meinen Kopf schwirren. Mein Gewand war viel zu warm und unter der Maske begann mein Gesicht zu jucken, aber das war mir egal. Ich hatte das Gefühl, wieder in Keramzin zu sein, alle Pflichten und die Androhung von Prügeln zu vergessen, um mich zu unserer Wiese davonzustehlen, im kühlen Gras zu liegen, dem Insektengesumm zu lauschen und zuzusehen, wie die Wolken am Himmel aufbrachen. Das war ein Friede, der jetzt unerreichbar weit fort zu sein schien.
Die Straße, die zur Villa des Gewürzgurkenkönigs führte, war von Kutschen verstopft. Wir bogen in eine Gasse beim Kloster ein, um uns am Dienstboteneingang leichter unter die Künstler mischen zu können.
Tamar richtete sorgsam ihr Gewand, als wir aus der Kutsche stiegen, denn sowohl sie als auch Maljen hatten eine Pistole unter den Kleidern versteckt, und ich wusste, dass sie eine Axt an jeden Oberschenkel geschnallt hatte.
»Und wenn wir tatsächlich jemandem die Zukunft vorhersagen sollen?«, fragte ich, als ich die Riemen der Maske straff zog und die Kapuze hochchlug.
»Dann erzählst du eben den üblichen Quatsch«, sagte Maljen. »Schöne Frauen, unverhoffter Reichtum. Hüte dich vor der Zahl Acht.‹«
Der Dienstboteneingang führte zu einer von Dampf erfüllten Küche und zu den Hinterzimmern der Villa. Wir waren gerade eingetreten, da packte mich ein Mann in der Livree der Gritzkis beim Arm. Ich zuckte zusammen.
»Was habt ihr hier zu suchen?«, fragte er und schüttelte mich. Ich sah, wie Tamar an ihre Hüfte griff.
»Ich …«
»Ihr drei solltet längst die Runde machen.« Er stieß uns in Richtung der Wohnräume. »Haltet euch nicht zu lange mit einzelnen Gästen auf. Und wehe, ich erwische euch beim Trinken!«
Ich nickte und versuchte mein rasendes Herz zu beruhigen, während wir zum Ballsaal eilten. Der Gewürzgurkenkönig hatte keine Kosten gescheut und die Villa als dekadentes Suli-Lager schmücken lassen. Unter den Decken hingen unzählige sternenförmige Laternen. Längs der Zimmerwände hatte man eine ganze Karawane von Wagen aufgestellt, die mit schimmernden Seidenstoffen verhängt waren. Künstliche Lagerfeuer flackerten mit buntem Schein. Die Terrassentüren standen offen und die Nacht war erfüllt von dem rhythmischen Schlagen von Becken und dem Jaulen von Geigen.
Ich sah in der Menge echte Wahrsagerinnen der Suli und stellte fest, wie unheimlich unsere Schakal-Masken waren. Die Gäste schien das nicht zu stören. Die meisten hatten schon ordentlich gebechert. Sie standen laut quasselnd in Grüppchen beisammen und sahen den Akrobaten zu, die ihre luftigen Kunststücke auf Seidenschaukeln vollführten. Ein paar Gäste saßen schwankend auf Stühlen und ließen sich ihre Zukunft aus goldenen Kaffeekannen vorhersagen. Andere saßen an dem langen Tisch auf der Terrasse, aßen gefüllte Feigen und Granatapfelkerne und klatschten im Takt der Musik.
Maljen stibitzte ein kleines Glas Kwass für mich und wir setzten uns in einer dunklen Ecke der Terrasse auf eine Bank, während Tamar in diskretem Abstand Posten bezog. Ich lehnte den Kopf an Maljens Schulter, glücklich, einfach neben ihm sitzen zu können, und lauschte dem Stampfen und Klimpern der Musik. In der Luft lag ein schwerer Duft von Blumen, die ihre Kelche nachts zu öffnen schienen, und darunter war ein Hauch von Zitrone zu riechen. Ich atmete tief ein und spürte, wie Erschöpfung und Furcht der vergangenen Wochen zumindest etwas nachließen. Ich schüttelte einen Schuh ab
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