Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Stuhlbeine schrammten laut über das Parkett. »Wann hast du die Sperrung aufgehoben? Seit wann sind die Wege offen?«
Wassili zuckte mit den Schultern. »Was tut das zur …«
»Seit wann?«
Meine Schulterwunde pochte.
»Vor ungefähr acht Tagen«, antwortete Wassili. »Glaubst du etwa, dass die Fjerdan uns von Ulensk aus angreifen? Die Flüsse frieren erst in einigen Monaten zu, und bis dahin …«
»Hast du dich je gefragt, wieso sie sich für Holzhandelswege interessieren?«
Wassili winkte ab. »Sie brauchen vermutlich Holz«, sagte er. »Oder diese Wege sind einem ihrer lächerlichen Waldgeister heilig.«
Am Tisch erhob sich ein nervöses Lachen.
»Sie werden nur von einem einzigen Fort verteidigt«, knurrte Nikolaj.
»Weil sie für eine große Armee unpassierbar sind.«
»Du denkst an einen Krieg der altmodischen Art, Bruder. Aber der Dunkle braucht kein Bataillon aus Fußsoldaten und schwerer Artillerie. Er braucht nur seine Grischa und die Nitschewo’ja . Wir müssen den Palast sofort evakuieren.«
»Das ist doch Unsinn!«
»Unser einziger Vorteil bestand darin, rechtzeitig gewarnt zu werden, und die Kundschafter auf den gesperrten Wegen waren unsere vorderste Verteidigungslinie. Sie waren unsere Augen und du hast uns geblendet. Der Dunkle ist vielleicht nur noch wenige Werst von hier entfernt.«
Wassili schüttelte betrübt den Kopf. »Das ist ja lächerlich.«
Nikolaj ließ beide Hände auf den Tisch klatschen. Die Teller klapperten laut. »Warum ist die Delegation der Fjerdan nicht hier, um auf deine ruhmreichen Verhandlungen anzustoßen? Auf dieses unerwartete Bündnis?«
»Sie ließen sich entschuldigen. Sie konnten nicht sofort aufbrechen, weil …«
»Sie sind nicht gekommen, weil es hier in Kürze ein Blutbad geben wird. Sie sind mit dem Dunklen im Bunde.«
»Unsere Spione verorten ihn einmütig im Süden bei den Shu.«
»Glaubst du, er hätte keine Spione? Meinst du, er hätte unser Netzwerk nicht unterwandert? Er hat eine Falle gestellt, die jedes Kind gewittert hätte, aber du bist blind hineingetappt.«
Wassili lief knallrot an.
»Nikolaj, gewiss ist …«, wandte seine Mutter ein.
»Im Fort in Ulensk ist ein ganzes Regiment stationiert«, warf ein General ein.
»Hörst du?«, sagte Wassili. »Du schürst hier die schlimmsten Ängste, und das lasse ich mir nicht bieten.«
»Ein einzelnes Regiment gegen eine Armee von Nitschewo’ja ? Im Fort sind längst alle tot«, sagte Nikolaj. »Und sie sind deinem Stolz und deiner Dummheit zum Opfer gefallen.«
Wassili griff nach dem Säbel. »Du hast den Bogen überspannt, kleiner Bastard.«
Die Zarin rang um Atem.
Nikolaj lachte heiser auf. »Ja, beleidige mich nur, Bruder. Glaubst du, das hilft dir? Sieh dich an diesem Tisch um«, sagte er. »Alle Generäle, alle Mitglieder des Hochadels, fast alle Lantsows und die Sonnenkriegerin sind an diesem Abend an einem Ort versammelt.«
Einige Gäste erbleichten. »Vielleicht«, sagte der sommersprossige Jüngling, der mir gegenübersaß, »sollten wir erwägen …«
»Nein!«, sagte Wassili mit bebender Unterlippe. »Er ist doch nur eifersüchtig! Er erträgt meinen Erfolg nicht. Er–«
Da begannen die Sturmglocken zu läuten, erst in der Ferne, dann dicht vor den Stadtmauern, eine nach der anderen, ein ganzer Chor von Alarmsignalen, die durch die Straßen von Os Alta hallten, durch die Oberstadt und bis über die Wälle des Großen Palastes.
»Du hast ihm Rawka ausgeliefert«, sagte Nikolaj.
Die Gäste sprangen panisch vom Tisch auf.
Maljen stand sofort mit gezogenem Säbel neben mir.
»Wir müssen zum Kleinen Palast«, sagte ich und dachte an die Spiegelschüsseln auf dem Dach. »Wo ist Tamar?«
Die Fenster zerbarsten mit lautem Klirren.
Ein Regen aus Scherben ging auf uns nieder. Ich riss die Arme hoch, um mein Gesicht zu schützen, die Gäste drängten sich kreischend zusammen.
Die Nitschewo’ja schwärmten mit Schwingen aus wabernden Schatten in den Saal, erfüllten die Luft mit dem Summen von Insekten.
»Bringt den Zaren in Sicherheit!«, brüllte Nikolaj, der den Säbel zog und zu seiner Mutter eilte.
Die Palastgarde war vor Entsetzen wie versteinert.
Ein Schatten riss den sommersprossigen Jüngling von den Beinen und schleuderte ihn gegen eine Wand. Er sackte mit gebrochenem Genick zu Boden.
Ich hob die Hände, aber um den Schnitt anzuwenden, hielten sich zu viele Menschen im Saal auf.
Wassili stand am Tisch neben dem zusammengekauerten Zaren.
»Du hast das
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