Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Dunkle dies bei sich getragen? Er hat keinen besonders religiösen Eindruck auf mich gemacht.«
Ich fing das Buch auf und drehte es um, wusste aber schon, worum es sich handelte. Die Goldprägung glitzerte in der Sonne.
»Du hast es gestohlen?«
»Zusammen mit einer ganzen Reihe anderer Dokumente aus seiner Kabine. Aber da es theoretisch meine Kabine war, bin ich mir nicht sicher, ob man es Diebstahl nennen kann.«
»Theoretisch«, bemerkte ich grimmig, »war es die Kabine des Kapitäns, dem du den Walfänger geraubt hast.«
»Wohl wahr«, gestand Sturmhond. »Wenn dir als Sonnenkriegerin kein Erfolg beschieden ist, würde ich an deiner Stelle über eine Laufbahn als Paragrafenreiterin nachdenken. Du verfügst über die passende Hartnäckigkeit. Aber du solltest wissen, dass dieses Büchlein dir gehört.«
Er griff danach und schlug es auf. Auf der Innenseite des Einbands stand mein Name: Alina Starkowa .
Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, aber meine Gedanken überschlugen sich. Dies war meine Ausgabe der Istorii Sankt’ja – jene, die mir in der Bibliothek des Kleinen Palastes vom Asketen geschenkt worden war. Der Dunkle hatte nach meiner Flucht aus Os Alta gewiss mein Zimmer durchsuchen lassen, aber wieso hatte er ausgerechnet dieses Büchlein an sich genommen? Und warum hatte er befürchtet, ich könnte es gelesen haben?
Ich blätterte darin. Die Ausgabe war herrlich illustriert, aber für ein Kinderbuch waren die Bilder viel zu unheimlich. Ein paar Heilige wurden bei Wundertaten oder Wohltätigkeiten gezeigt: Sankt Feliks zwischen den Apfelbäumen; Sankta Anastasia, die Arkesk von der verheerenden Pest erlöst. Aber die meisten Illustrationen zeigten den Märtyrertod der Heiligen: Sankta Lisaweta, erst gestreckt und dann gevierteilt; die Enthauptung von Sankt Lubow; Sankt Ilja in Ketten. Ich erstarrte beim Anblick dieser Illustration, konnte nicht mehr verbergen, was in mir vorging.
»Findest du das nicht auch interessant?«, sagte Sturmhond und tippte mit einem langen Finger auf die Seite. »Wenn ich mich nicht irre, handelt es sich um das Geschöpf, das wir gerade gefangen haben.«
Es konnte keinen Zweifel geben: Die unverkennbare Gestalt der Meeresgeißel durchpflügte hinter Sankt Ilja die Wellen eines Sees oder Ozeans. Aber das war nicht alles. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht an meinen Halsreif zu fassen.
Ich schloss das Buch und zuckte mit den Schultern. »Auch nur Märchen.«
Maljen warf mir einen verblüfften Blick zu. Ich wusste nicht, ob er gesehen hatte, was die Illustration zeigte.
Ich wollte die Istorii Sankt’ja eigentlich nicht zurückgeben, aber Sturmhond war schon misstrauisch genug. Also zwang ich mich, ihm das Buch hinzuhalten, und hoffte, dass er mein Zittern nicht bemerkte.
Sturmhond musterte mich, stieß sich dann von der Reling ab und schüttelte die Ärmelaufschläge aus. »Behalt es. Immerhin gehört es dir . Wie du sicher gemerkt hast, habe ich hohe Achtung vor Privatbesitz. Außerdem musst du dich mit etwas beschäftigen, bis wir Os Kerwo erreichen.«
Maljen und ich zuckten zusammen.
»Du bringst uns nach West-Rawka?«, fragte ich.
»Ich bringe euch zu meinem Auftraggeber. Mehr darf ich nicht verraten.«
»Wer ist es? Was will er von mir?«
»Woher willst du wissen, dass es ein Mann ist? Vielleicht liefere ich euch an die Königin der Fjerdan aus.«
»Sie hat dich geschickt?«
»Nein. Aber man muss Alternativen haben. Alles andere wäre unklug.«
Ich schnaubte frustriert. »Gibst du je eindeutige Antworten?«
»Schwer zu sagen. Ah – ich bin schon wieder zweideutig.«
Ich drehte mich mit geballten Fäusten zu Maljen um. »Ich bringe ihn um.«
»Antworte endlich, Sturmhond«, knurrte Maljen.
Sturmhond zog eine Augenbraue hoch. »Ihr solltet zweierlei wissen«, sagte er, und dieses Mal hatte seine Stimme einen herrischen Unterton. »Erstens nimmt ein Kapitän auf seinem eigenen Schiff keine Befehle entgegen. Zweitens möchte ich euch einen Handel vorschlagen.«
Maljen seufzte verächtlich. »Wie kommst du darauf, dass wir dir vertrauen?«
»Weil ihr keine Wahl habt?«, erwiderte Sturmhond heiter. »Ich weiß, dass ihr dieses Schiff ohne viel Federlesens auf den Meeresgrund schicken könntet, aber ich hoffe, ihr werdet meinen Auftraggeber anhören. Wartet ab, was er zu sagen hat. Und falls euch seine Vorschläge nicht gefallen, verspreche ich, euch zur Flucht zu verhelfen und an einen Ort eurer Wahl zu bringen, egal wo.«
Ich war
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