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Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Titel: Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leigh Bardugo
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Untier.«
    Die Meeresgeißel. Ich hatte sie in der Aufregung des Gefechts fast vergessen.
    Maljen zögerte, dann senkte er langsam das Gewehr.
    »Waffen runter«, befahl Sturmhond seinen Männern. Sie steckten die Pistolen und Säbel wieder ein.
    Sturmhond nickte Tamar zu. »Holt sie ein.«
    Auf Tamars Befehl beugten sich mehrere Seeleute über die Steuerbordreling und lösten ein kompliziertes Netzwerk aus Tauen. Im Anschluss hievten sie die Meeresgeißel an Bord. Sie knallte dumpf auf die Planken, wehrte sich mit immer weiter schwindenden Kräften gegen das silbrige Netz, in dem sie gefangen war. Sie schlug ungestüm mit ihrem Schwanz, schnappte mit den riesigen Zähnen. Wir sprangen zurück.
    »Wenn ich mich nicht irre, musst du es tun«, sagte Sturmhond und hielt mir wieder das Messer hin. Ich musterte den Freibeuter, wobei ich mich fragte, was er über Kräftemehrer im Allgemeinen und über diesen im Besonderen wusste.
    »Na los«, sagte er. »Wir müssen weiter. Wir haben das Schiff des Dunklen zwar lahmgelegt, aber es wird bald wieder flott sein.«
    Die Klinge in seiner Hand schimmerte matt in der Sonne. Grischa-Stahl. Das überraschte mich nicht.
    Ich zögerte trotzdem.
    »Ich habe gerade dreizehn gute Männer verloren«, flüsterte Sturmhond. »Sag mir nicht, dass sie umsonst gestorben sind.«
    Ich sah zur Meeresgeißel. Sie lag zuckend und mit flatternden Kiemen auf Deck. Ihre roten Augen waren sowohl trübe als auch wütend. Ich erinnerte mich an den steten Blick der dunklen Augen des Hirsches, an die stille Panik während seiner letzten Lebensmomente.
    Der Hirsch hatte so lange in meiner Vorstellung gelebt, dass er mir fast vertraut gewesen war, als er schließlich zwischen den Bäumen erschienen und auf die verschneite Lichtung getreten war. Die Meeresgeißel war mir fremd und, trotz der betrüblichen, unverrückbaren Wahrheit ihres geschundenen Leibes, mehr Mythos als Wirklichkeit.
    »So oder so: Sie überlebt nicht«, sagte der Freibeuter.
    Ich packte das Messer. Es fühlte sich schwer in meiner Hand an. Zeige ich jetzt Gnade? Es war ganz sicher nicht die gleiche Art von Gnade, die ich Morozows Hirsch erwiesen hatte.
    Rusalje. Der verwunschene Prinz, Wächter der Knochenrinne. In den Sagen hieß es, er würde einsame Maiden auf seinen Rücken locken und lachend über die Wellen tragen, bis sie so weit vom Ufer entfernt waren, dass niemand mehr ihre Hilferufe hörte. Dann tauchte er in die Tiefe, nahm sie mit zu seinem Unterwasserpalast, und dort, wo es nichts außer Korallen und Perlen gab, verkümmerten die Maiden. Rusalje beweinte sie und stimmte über den leblosen Körpern seinen Trauergesang an, dann kehrte er an die Oberfläche zurück, um sich eine neue Königin zu holen.
    Nur Sagen , sagte ich zu mir selbst. Dies ist ein weidwundes Tier, kein Prinz.
    Die Flanken der Meeresgeißel hoben und senkten sich heftig. Sie ließ vergeblich die Kiefer schnappen. In ihrem Rücken steckten zwei Harpunen und wässeriges Blut sickerte aus den Wunden. Ich reckte unschlüssig das Messer, wusste nicht, wo ich zustechen sollte. Meine Arme zitterten. Die Meeresgeißel stieß einen pfeifenden, kläglichen Seufzer aus, ein schwaches Echo des zauberhaften Chors.
    Maljen trat vor. »Mach dem ein Ende, Alina«, sagte er heiser. »Um der Heiligen willen.«
    Er entwand mir das Messer und es fiel auf die Planken. Dann ergriff er meine Hände und schloss sie um den Schaft einer Harpune. Wir beendeten die Sache mit einem einzigen kräftigen Stoß.
    Die Meeresgeißel erschauderte. Danach erschlaffte sie. Ihr Blut lief an Deck zusammen.
    Maljen betrachtete seine Hände, wischte sie am zerfetzten Hemd sauber und wandte sich ab.
    Tolja und Tamar kamen auf mich zu. Mir drehte sich der Magen um. Ich wusste, was als Nächstes geschehen musste. Unmöglich , sagte eine Stimme in meinem Kopf. Geh einfach weg. Spiel nicht mit. Ich hatte wieder das Gefühl, als würde alles viel zu schnell ablaufen. Andererseits konnte ich einen solchen Kräftemehrer nicht einfach ins Meer werfen. Der Drache hatte sein Leben schon ausgehaucht. Und wenn ich den Kräftemehrer an mich nahm, musste ich ihn ja nicht zwangsläufig benutzen.
    Die weißen Schuppen der Meeresgeißel glänzten matt in allen Farben des Regenbogens. Doch ein Streifen, der sich von den großen Augen über den Schädel bis zur weichen Mähne zog, sah anders aus – diese Schuppen hatten goldene Ränder.
    Tamar zog ein Messer aus dem Gürtel und löste mit Toljas Hilfe die Schuppen.

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