Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Geruch von Haferbrei mit Ei. Ich saß auf den Schultern eines Mannes – vielleicht meines Vaters – und wurde über eine staubige Straße getragen. In Keramzin hatte die bloße Erwähnung unserer Eltern als Verrat an der Güte des Herzogs und als Indiz für Undankbarkeit gegolten. Bereits vor unserer Ankunft auf dem Anwesen war uns eingetrichtert worden, ja kein Wort über unser früheres Leben zu verlieren, und irgendwann waren alle Erinnerungen daran verblasst.
»Aus dem Nirgendwo«, sagte ich. »Mein Geburtsort ist so winzig, dass er nicht einmal einen Namen trägt. Und du, Sturmhond? Woher stammst du?«
Der Freibeuter grinste. Mir kam wieder der Gedanke, dass mit seinem Gesicht irgendetwas nicht stimmte.
»Meine Mutter war eine Auster«, sagte er augenzwinkernd. »Und ich bin die Perle.«
Er schlenderte davon und pfiff dabei eine schiefe Melodie vor sich hin.
Zwei Tage später schlug ich mitten in der Nacht die Augen auf. Tamar stand über mir und rüttelte mich an der Schulter.
»Du musst dich bereit machen«, sagte sie.
»Jetzt?«, fragte ich träge. »Wie spät ist es?«
»Es geht auf drei Glasen.«
»In der Frühe?« Ich gähnte und hievte meine Beine aus der Hängematte. »Wo sind wir?«
»Fünfzehn Seemeilen vor der Küste West-Rawkas. Na los, Sturmhond wartet.« Sie war angekleidet und trug den Seesack über der Schulter.
Da ich keine Habseligkeiten hatte, zog ich meine Stiefel an, prüfte nach, ob das rote Büchlein in der Innentasche meines Mantels steckte, und folgte ihr an Deck.
Maljen stand mit einer kleinen Schar Seeleute an der Steuerbordreling. Ich stellte verwirrt fest, dass Priwjet Sturmhonds stutzerhaften türkisfarbenen Rock trug. Und wenn Sturmhond keine Befehle gegeben hätte, hätte ich ihn nicht erkannt. Er trug einen groben Militärmantel mit hochgeklapptem Kragen und eine bis über die Ohren gezogene Wollmütze.
Ein kalter Wind wehte. Die Sterne glitzerten am Himmel und ein Sichelmond stand dicht über dem Horizont. Ich warf einen Blick über die mondhellen Wellen, lauschte dem steten Seufzen der See. Wenn Land in der Nähe war, konnte ich es nicht sehen.
Maljen versuchte, meine Arme warm zu rubbeln.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Wir gehen an Land.« Er klang müde.
»Mitten in der Nacht?«
»Die Wolkwolnij wird unter meiner Flagge vor der Küste der Fjerdan kreuzen«, sagte Sturmhond. »Der Dunkle sollte noch nicht wissen, dass du Rawkas Boden wieder betreten hast.«
Sturmhond und Priwjet steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, und Maljen zog mich zur Backbordreling. »Bist du überzeugt, dass dies richtig ist?«
»Nein, gar nicht«, gestand ich.
Er legte die Hände auf meine Schultern und sagte: »Es wäre gut möglich, dass man mich festnimmt, wenn wir entdeckt werden, Alina. Du bist vielleicht die Sonnenkriegerin, aber ich bin nur ein Soldat, der die Befehle nicht befolgt hat.«
»Die Befehle des Dunklen .«
»Das tut nichts zur Sache.«
»Ich werde schon dafür sorgen, dass es etwas zur Sache tut. Außerdem wird uns niemand entdecken. Wir werden uns nach West-Rawka begeben und Sturmhonds Auftraggeber treffen. Danach entscheiden wir, was zu tun ist.«
Maljen zog mich dichter an sich. »Warst du schon immer so dickköpfig?«
»Ich halte mich gern für wunderbar vielschichtig.«
Er wollte sich gerade bücken, um mich zu küssen, da ertönte im Dunkeln Sturmhonds Stimme. »Könnt ihr das Knutschen auf später verschieben? Ich will vor Anbruch der Dämmerung an Land sein.«
Maljen seufzte. »Irgendwann verpasse ich ihm eine.«
»Du kannst mit meiner Unterstützung rechnen.«
Er ergriff meine Hand und wir kehrten zu den anderen zurück.
Sturmhond reichte Priwjet einen Umschlag, versiegelt mit einem Klecks blassblauen Wachses, und gab ihm einen Klaps auf den Rücken. Vielleicht lag es am Mondschein, aber der Obermaat sah aus, als wollte er gleich in Tränen ausbrechen. Tolja und Tamar kletterten über Bord auf eine Leiter, die an der Außenwand befestigt war.
Ich schaute über die Reling. Ich hatte ein gewöhnliches Beiboot erwartet, erblickte zu meiner Überraschung jedoch einen kleinen Segler, der neben der Wolkwolnij auf den Wellen tanzte. Ein solches Boot hatte ich noch nie gesehen. Es hatte zwei Rümpfe, deren Form an Holzschuhe erinnerte und die durch ein Deck miteinander verbunden waren, in dem ein großes Loch gähnte.
Maljen stieg nach unten. Ich folgte ihm und setzte vorsichtig einen Fuß auf einen der geschwungenen Rümpfe. Danach
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