Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
dagegen«, antwortete ich. »Und ich weiß zum Glück, wie sich ein echter Kuss anfühlt.«
Ich ließ ihn mitten auf dem Platz stehen. Langsam fand ich Gefallen daran, Maljen zum Erröten zu bringen.
Am Abend vor unserem Einzug in Os Alta kehrten wir bei einem Landadeligen ein, dessen Anwesen wenige Werst vor den Stadtmauern lag. Es erinnerte mich an Keramzin – die prächtigen schmiedeeisernen Tore, der lange, gerade Weg zu dem anmutigen, zweiflügeligen Haus aus hellem Backstein. Wie ich erfuhr, war Graf Minkoff bekannt dafür, sehr kleine Obstbäume zu züchten, und in den Fluren seines Landhauses standen zahlreiche kunstvoll beschnittene Bäumchen, die die Zimmer mit den süßen Düften von Pflaumen und Pfirsichen erfüllten.
Ich erhielt ein elegantes Schlafgemach im zweiten Stock. Tamar bezog das Nachbarzimmer, Tolja und Maljen wohnten im Flur gegenüber. Auf meinem Bett erwartete mich eine große Kiste, in der ich die Kefta fand, für die ich mich vor einer Woche entschieden hatte. Nikolaj hatte sie im Kleinen Palast in Auftrag gegeben und die dunkelblaue, mit Goldfäden durchwirkte Seide verriet die Arbeit der Grischa-Fabrikatoren. Ich hatte damit gerechnet, dass sie schwer in der Hand liegen würde, aber durch die Kunst der Materialki war der Stoff federleicht. Als ich die Kefta über den Kopf streifte, schimmerte sie so lebendig wie Sonnenstrahlen unter Wasser. Die Schnallen hatten die Form kleiner, goldener Sonnen. Diese Kefta war nicht nur wunderschön, sondern auch repräsentativ. Nikolaj würde zufrieden sein.
Die Hausherrin schickte eine Dienerin, die mir das Haar machen sollte. Sie bat mich, am Frisiertisch Platz zu nehmen, und bemühte sich danach leicht verärgert, meine Strähnen zu einem lockeren Knoten aufzustecken. Sie hatte viel sanftere Hände als Genja, war aber nicht halb so begabt. Doch ich verdrängte diesen Gedanken, denn ich wollte nicht daran denken, was Genja wohl widerfahren war, nachdem wir sie auf dem Walfänger zurückgelassen hatten, und auch nicht daran, wie einsam ich ohne sie im Kleinen Palast wäre.
Ich dankte der Dienerin und entließ sie. Dann griff ich nach dem schwarzen Samtbeutel, den ich zusammen mit der Kefta bekommen hatte, steckte ihn ein und überprüfte, ob das Schuppenarmband gut von meinem Ärmel verdeckt wurde. Schließlich ging ich nach unten.
Beim Essen wurde vor allem über die neuesten Theaterstücke, den möglichen Verbleib des Dunklen und die Ereignisse in Os Alta gesprochen. Die Stadt quoll über von Flüchtlingen. Neuankömmlinge wurden an den Toren abgewiesen und man munkelte von Hungerrevolten in der Unterstadt. All das schien unendlich weit fort von diesem prachtvollen Anwesen zu sein.
Der Graf und seine Gattin, eine dickliche Dame mit ergrauenden Locken und schauerlich tief ausgeschnittenem Dekolleté, ließen üppig auftischen. Wir aßen Kaltschale aus kürbisförmigen, mit Edelsteinen besetzten Tassen, gebratenes Lamm mit Rosinentunke, Pilze in Sahnesoße und etwas, bei dem es sich, wie ich im Nachhinein erfuhr, um Kuckuck in Cognac handelte. Alle Teller und Gläser hatten einen Silberrand und waren mit dem Wappen der Minkoffs verziert. Am beeindruckendsten war jedoch der Tafelaufsatz, der die ganze Länge des Tisches einnahm: Er hatte die Gestalt eines kunstvoll und detailreich gestalteten Waldes mit winzigen Kiefern, rankender Ackerwinde, deren Blüten kaum größer als ein Fingernagel waren, und einer kleinen Hütte, in der sich das Salz verbarg.
Ich saß zwischen Nikolaj und Oberst Rajewski und hörte zu, wie die edlen Gäste lachten und plauderten und immer wieder die Gläser hoben, um auf die Rückkehr des jungen Prinzen und auf das Wohl der Sonnenkriegerin anzustoßen. Ich hatte Maljen gebeten, mit uns zu essen, doch er hatte lieber mit Tolja und Tamar auf dem Anwesen patrouillieren wollen. Immer wieder schaute ich zur Terrasse in der Hoffnung, ihn zu sehen, und versuchte währenddessen, den Gesprächen zu folgen.
Nikolaj schien dies zu merken, denn er flüsterte: »Du brauchst nicht zuzuhören, aber du solltest wenigstens so aussehen, als ob.«
Ich gab mir Mühe, hatte aber wenig zu erzählen. Auch wenn ich eine glitzernde Kefta trug und neben einem Prinzen saß, war ich immer noch eine Landpomeranze aus einem namenlosen Ort. Ich gehörte nicht zu diesen Menschen, und ich wollte im Grunde auch nicht dazugehören. Trotzdem dankte ich im Stillen Ana Kuja, die ihren Waisenkindern beigebracht hatte, wie man sich bei Tisch benahm und
Weitere Kostenlose Bücher