Grisham, John
hatte er kurz davor gestanden, nach Hause zu
fahren und seinen Vater um Hilfe zu bitten. Doch dann ging die Bedrohung
vorüber, verschwand, und John McAvoy wurde nie mit dem Wissen um den hässlichen
Vorfall belastet. Niemand von ihnen, weder er selbst noch Joey Bernardo, Alan
Strock oder Baxter Tate, erzählte es den Eltern. Die Akte wurde geschlossen,
bevor sie dazu gezwungen gewesen wären.
Hätte er jetzt alles offenbart, würde sein Vater als Erstes fragen, warum er es
ihm damals nicht erzählt hatte. Und Kyle war nicht darauf vorbereitet, sich
dieser Situation zu stellen. Sehr viel unangenehmere Fragen würden folgen, ein
regelrechtes Kreuzverhör durch einen Routinier aus dem Gerichtssaal, der seinen
Sohn schon von Kindesbeinen an verhört hatte. Nein, es war sehr viel leichter,
wenn er seine Geheimnisse bewahrte und auf das Beste hoffte.
Was
er seinem Vater zu sagen hatte, war problematisch genug. Nachdem der letzte
Mandant gegangen war, verabschiedete sich Sybil und schloss die Eingangstür.
John McAvoy und sein Sohn machten es sich in dem großen Büro bequem und
unterhielten sich über Basketball und Eishockey, dann über die Familie, zuerst
über die Zwillinge, wie immer, schließlich über Patty.
"Weiß
deine Mutter, dass du in der Stadt bist?", fragte John. "Nein. Ich
rufe sie morgen an. Geht's ihr gut?"
"Ja.
Es hat sich nichts geändert." Patty lebte und arbeitete im obersten Stock
eines alten Lagerhauses in York. In dem riesigen Raum gab es jede Menge große
Fenster, durch die das Licht fiel, das sie als Malerin brauchte. John kam durch
eine monatliche Zuwendung von dreitausend Dollar für die Miete, ihr
Arbeitsmaterial und alles Sonstige auf, das sie benötigte. Es war keine
Unterhaltszahlung, sondern ein Geschenk, das er ihr schuldig zu sein glaubte,
weil sie sich selbst nicht über Wasser halten konnte. Niemand in der Familie
hatte gehört, dass sie während der letzten neunzehn Jahre auch nur ein Bild
oder eine Skulpfür verkauft hätte.
"Ich
rufe sie jeden Dienstagabend an", sagte Kyle.
"Ich
weiß."
Mit Handys und Computern hatte Patty nichts im Sinn. Sie litt an einer
ernsthaften bipolaren manisch-depressiven Erkrankung, und ihre abrupten
Stimmungsumschwünge waren manchmal erstaunlich. Obwohl er in der Zwischenzeit
einige Freundinnen gehabt hatte, liebte John sie immer noch, und er hatte nie
wieder geheiratet. Patty hatte mindestens zwei verheerende Affären hinter sich,
beide mit Künstlern, sehr viel jüngeren Männern, und John war zur Stelle
gewesen, um sie danach wieder aufzurichten. Ihr Verhältnis war kompliziert -
und das war noch eine Untertreibung.
"Was
macht die Uni?", fragte John.
"Ist
fast geschafft. In drei Monaten bin ich fertig."
"Kaum
zu glauben."
Kyle schluckte und beschloss, es hinter sich zu bringen. "Was meine erste
Stellung betrifft, habe ich meine Meinung geändert. Ich werde an der Wall
Street anfangen. Bei Scully & Pershing."
John steckte sich gemächlich eine Zigarette an. Er war zweiundsechzig, beleibt,
aber nicht fett, und hatte welliges graues Haar. Zwar hatte er eine etwas
höhere Stirn, doch sein Sohn hatte mit fünfundzwanzig schon mehr Haare verloren
als der Vater.
John inhalierte den Rauch seiner Winston und warf Kyle durch die tief auf der
Nase sitzende Lesebrille einen eingehenden Blick zu. "Irgendein spezieller
Grund?"
Kyle hatte sich eine Reihe von Begründungen zurechtgelegt, doch ihm war klar,
dass sie selbst dann flach klingen würden, wenn er sie überzeugend vortrüge.
"Der Job als Rechtshilfeberater ist reine Zeitverschwendung. Da ich
sowieso irgendwann an der Wall Street lande, warum nicht gleich da
anfangen?"
"Ich
kann's nicht glauben."
"Ich
weiß, ich weiß. Es ist eine Wendung um hundertachtzig Grad."
"Es
ist ein Ausverkauf deiner Ideale. Nichts verpflichtet dich, eine Karriere in
einer solchen Kanzlei zu starten."
"Es
ist die erste Liga, Dad."
"In
welcher Hinsicht? Geld?"
"Zum
Beispiel."
"Es
gibt Prozessanwälte, die im Jahr zehnmal mehr verdienen als die bestbezahlten
Partner in New York."
"Ja,
und jedem großen Prozessanwalt stehen fünftausend verhungernde, allein
praktizierende Anwälte gegenüber. Aufs Ganze gesehen, verdient man in einer
großen Kanzlei sehr viel besser."
"Du
wirst jede Minute bereuen, die du da verbringst."
"Vielleicht
nicht."
"Natürlich
wird es so kommen. Du bist hier aufgewachsen, mit Menschen und leibhaftigen
Mandanten. In New York wirst du zehn Jahre lang keinen Mandanten
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