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Grisham, John

Grisham, John

Titel: Grisham, John Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Anw
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habe.
      
Und Kyle war, obwohl noch ein Teenager, der inoffizielle Anwalt einer Miss
Brily, einer verrückten alten Dame, die man aus jeder anderen Kanzlei in York
hinausgeworfen hatte und die mit einem hölzernen Aktenschrank auf Rollen durch
die Straßen der Stadt streifte. Der Schrank war voller Papiere, die ihrer
Meinung nach eindeutig bewiesen, dass ihr Vater, bei dessen Tod mit
sechsundneunzig es ihr zufolge nicht mit rechten Dingen zugegangen war, der
rechtmäßige Erbe eines riesigen Stückes Land im Osten Pennsylvanias gewesen
sei, unter dem es reiche Kohlevorkommen gebe. Kyle hatte die meisten ihrer
"Dokumente" studiert und war schnell zu der Ansicht gelangt, dass sie
noch verrückter war, als andere Rechtsanwälte vermuteten. Aber er mochte sie
und hörte sich ihre Verschwörungstheorien an. Zu dieser Zeit verdiente er vier
Dollar in der Stunde und war jeden Penny davon wert. Sein Vater ließ ihn oft im
Wartezimmer sitzen, um sich jene potenziellen neuen Mandanten anzusehen, die
auf den ersten Blick so wirkten, als würden sie nur seine Zeit verschwenden.
     
Wenn man davon absah, dass er wie alle Jungs davon träumte, Profisportler zu
werden, hatte Kyle eigentlich schon immer gewusst, dass er Anwalt werden würde.
Er wusste nicht, worauf er sich spezialisieren und wo er praktizieren würde,
aber als er York verließ, um in Duquesne zu studieren, bezweifelte er, dass er
zurückkehren würde. Auch John McAvoy bezweifelte das, obwohl er oft daran
dachte, mit welchem Stolz es ihn erfüllen würde, wenn die Kanzlei eines Tages
den Namen McAvoy & McAvoy trüge. Er verlangte von seinen Anwälten harte
Arbeit und exzellente Universitätsabschlüsse, doch selbst er war etwas
überrascht, wie gut Kyle auf dem College und an der Yale Law School reüssierte.
Als Kyle begann, Vorstellungsgespräche bei großen Kanzleien zu führen, hatte
John McAvoy jede Menge dazu zu sagen.
    Kyle
hatte seinen Vater angerufen und gesagt, er werde am späten Freitagnachmittag
in York eintreffen. Sie hatten verabredet, gemeinsam zum Abendessen zu gehen.
Als Kyle um halb sechs in der Kanzlei ankam, herrschte noch Hochbetrieb. Die
Konkurrenz schloss freitags früh, und die meisten Anwälte saßen mittlerweile in
Bars oder im Countryclub. John McAvoy machte Überstunden, weil viele seiner
Mandanten am Ende der Arbeitswoche ihren Lohn bekamen, und einige schauten
vorbei, um kleine Schecks auszustellen und sich nach dem Stand ihrer
Angelegenheiten zu erkundigen. Kyle war seit sechs Wochen - seit Weihnachten -
nicht zu Hause gewesen, und heute kam ihm die Kanzlei noch schäbiger vor. Der
Teppichboden musste ersetzt werden, die Bücherregale bogen sich noch mehr
durch. Sein Vater schaffte es nicht, die Zigaretten aufzugeben. Folglich war in
der Kanzlei das Rauchen erlaubt, und unter der Decke hing eine dichte
Dunstwolke.
      
Als er durch die Tür spazierte, legte Sybil, die Chefsekretärin, sofort den
Telefonhörer auf. Sie sprang hoch, quiekte vor Freude, packte ihn, drückte ihre
voluminösen Brüste an ihn und begrüßte ihn mit Küsschen auf die Wange. Sein
Vater hatte Sybil bei mindestens zwei Scheidungen beigestanden, und es würde
nicht mehr lange dauern, bis auch ihr gegenwärtiger Ehemann auf die Straße
gesetzt wurde. Kyle hatte über Weihnachten die Einzelheiten mitbekommen. Im
Augenblick arbeiteten in der Kanzlei drei Sekretärinnen und zwei Anwälte, und
er ging von Zimmer zu Zimmer, erst unten, dann oben, um mit den Mitarbeitern
seines Vaters zu plaudern, die Akten und Handtaschen packten und ihre
Schreibtische aufräumten. Schon möglich, dass es dem Boss gefiel, freitags
Überstunden zu machen, aber die anderen waren müde.
      
Kyle trank ein Glas kalorienarme Limonade im Aufenthaltsraum und lauschte auf
die Geräusche und Stimmen der Angestellten, die sich auf den Feierabend
vorbereiteten. Der Gegensatz zu Scully & Pershing war gravierend. In der
Kanzlei seines Vaters waren die Mitarbeiter Freunde, denen man vertrauen
konnte. Das Arbeitstempo war manchmal schnell, aber nie irrwitzig hektisch. Der
Boss war ein guter Kerl, den man selbst gern als Rechtsanwalt gehabt hätte, die
Mandanten hatten Gesichter und Namen. Die Anwälte auf der anderen Straßenseite
waren alte Kumpels. Es war eine völlig andere Welt als in New York City.
      
Nicht zum ersten Mal fragte Kyle sich, warum er seinem Vater nicht alles
erzählte. Alles. Beginnen würde er mit Elaine, ihren Anschuldigungen, den Cops
und deren Fragen. Fünf Jahre zuvor

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