Grisham, John
seine Mutter nicht ans Telefon ging. Er hatte am
Samstagmorgen fast bis elf Uhr gewartet, ehe er anrief. Er hinterließ die
kurze, freundliche Nachricht, dass er gern bei ihr vorbeischauen würde, da er
zufällig in York sei. Entweder schlief sie noch, oder sie war von ihren
Medikamenten benebelt oder arbeitete, wenn es ein guter Tag war, wie besessen
in ihrem Atelier an irgendeinem ihrer Kunstwerke, die zu den scheußlichsten
gehörten, die je in Galerien und Museen ausgestellt worden waren. Besuche bei
seiner Mutter waren anstrengend. Sie verließ ihr Loft selten, warum auch immer.
Wenn er vorschlug, ins Cafe zu gehen oder auswärts zu Mittag zu essen, lehnte
sie stets ab. Waren die Medikamente gut eingestellt, redete sie ununterbrochen,
während Kyle ihre letzten Meisterwerke bewundern musste. Wenn nicht, lag sie
mit geschlossenen Augen auf dem Sofa, ungewaschen, ungekämmt und in Frust und
Elend versunken. Nach seinem Leben - College, Studium, Freundinnen,
Zukunftspläne - fragte sie ihn selten. Dazu war sie viel zu sehr in ihre eigene
traurige, kleine Welt verwoben. Auch zu ihren anderen Kindern hatte sie kaum
Kontakt. Kyles Zwillingsschwestern lebten weit entfernt von York.
Er sprach ihr auf Band, als er die Stadt schon fast wieder verlassen hatte, und
hoffte, dass sie nicht sofort zurückriefe. Sie tat es nicht. Sie rief gar nicht
zurück, was aber nicht ungewöhnlich war. Vier Stunden später war er in
Pittsburgh. Joey Bernardo hatte Tickets für das Hockeyspiel am Samstagabend.
Die Penguins gegen die Senators. Drei Tickets, nicht zwei.
Sie trafen sich im "Boomerang's", ihrer Stammkneipe aus
Studententagen. Da Kyle dem Alkohol abgeschworen hatte (im Gegensatz zu Joey),
hielt er sich nur noch selten in Bars auf. Während der Fahrt nach Pittsburgh
war er davon ausgegangen, dass er mit seinem alten Mitbewohner ein geruhsames
Wochenende verbringen würde, aber daraus sollte wohl nichts werden.
Das dritte Ticket war für Blair, Joeys bald offizielle Verlobte. Sie hatten
sich kaum in eine der engen Nischen geschoben und etwas zu trinken bestellt, da
platzte Joey schon mit der Nachricht heraus, dass sie sich soeben verlobt
hätten und jetzt einen Hochzeitstermin suchten. Beiden sprühte das Liebesglück
aus den Augen, und sie schienen von der Außenwelt nichts wahrzunehmen.
Händchenhaltend saßen sie da, eng aneinandergeschmiegt, hin und wieder
vertraulich kichernd, bis Kyle sich nach wenigen Minuten ziemlich deplatziert
vorkam. Was war nur aus seinem Freund geworden? Wo war der alte Joey - der harte
Kerl aus South Pittsburgh, Sohn eines Feuerwehrmanns, begabter Boxer, Fullback
des erfolgreichen Highschool- Footballteams mit unstillbarem Appetit auf
Mädchen, der zynische Filou, der die Meinung vertrat, dass man Frauen wechseln
sollte wie die Unterhosen, und der geschworen hatte, auf keinen Fall vor
vierzig zu heiraten?
Blair hatte ihn weichgekocht. Kyle war überrascht über die Verwandlung.
Irgendwann hatten sie genug über Hochzeitsplanung und potenzielle
Flitterwochenziele diskutiert und wandten sich beruflichen Themen zu. Blair,
eine Plaudertasche, die jeden Satz mit "Ich", "Mein" oder
"Mich" anfing, arbeitete für eine Werbeagenfür und erging sich in
elegischen Beschreibungen über eine ihrer letzten Marketingkampagnen. Joey hing
an ihren Lippen, doch Kyle sah immer wieder auf die Wanduhr, die hinter den bei
den über der Fensterfront befestigt war. Während Blair redete, bemühte er sich
nach Kräften, so viel Blickkontakt zu halten, dass es nach Interesse aussah, in
Gedanken aber war er bei dem Video.
Ist sie wach?, fragt Joey Baxter, der Sex mit der unter Drogen stehenden Elaine
Kcenan hat.
"Blair
fliegt ziemlich oft nach Montreal", erzählte Joey, woraufhin Blair sich
auf das Thema Montreal und die Schönheit dieser Stadt stürzte und aufgeregt
mitteilte, dass sie Französisch lerne.
Ist sie wach? Joey, der die Hände unter dem Tisch hatte und zweifellos an
irgendwelchem Fleisch herumrieb, hatte keine blasse Ahnung, dass das Video
existierte. Wann hatte er zum letzten Mal an diesen Vorfall gedacht? Hatte er
überhaupt je daran gedacht? Und was würde es nützen, wenn Kyle ihn jetzt daran
erinnerte?
Nachdem die Polizei in Pittsburgh die Akte bezüglich Elaine und der
Vergewaltigung geschlossen hatte, hatten auch die Beta-Brüder die Angelegenheit
begraben. Kyle konnte sich nicht erinnern, in den letzten beiden Jahren auf dem
College ein einziges Mal über die
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