Grisham, John
sonntagnachmittags mit ihnen.
Er besuchte sie zu Hause, in Krankenhäusern, in Gefängnissen. Seinem
Selbstverständnis nach war er ein Anwalt der einfachen Leute, Menschen, die in
Fabriken arbeiteten, diskriminiert wurden oder mit dem Gesetz in Konflikt
gerieten. Seine Mandanten waren weder Banken noch Versicherungsgesellschaften,
Immobilienfirmen oder Unternehmen. Seine Klientel wurde schlecht bezahlt - und
oft gar nicht. Manchmal entrichteten Mandanten das Anwaltshonorar in Form von
Feuerholz, Clem und Geflügel' Steaks oder Gartenarbeit. Die Kanzlei wuchs,
expandierte innerhalb des Reihenhauses, und irgendwann konnte John es kaufen.
Jüngere Anwälte kamen und gingen, keiner blieb länger als drei Jahre. Mr McAvoy
verlangte eine Menge von seinen Mitarbeitern. Bei den Sekretärinnen war er
nachsichtiger. Eine von ihnen, eine geschiedene junge Frau namens Patty,
heiratete er nach kurzer Zeit, und es dauerte nicht lange, bis sie schwanger
war.
Die Kanzlei von John L. McAvoy hatte sich ausschließlich darauf spezialisiert,
materiell wenig begüterte Mandanten zu vertreten. Jeder konnte vorbeikommen,
mit oder ohne Termin, und mit dem Chef reden, sobald der Zeit hatte. Er
kümmerte sich um Testamente und Grundstücksstreitigkeiten, Scheidungen und
Versicherungsfragen, kleine Strafrechtsdelikte und eine Unzahl anderer
Probleme, mit denen ihn seine Mandanten in den Büros an der Market Street
konfrontierten. Es war immer etwas los, die Kanzlei öffnete früh und schloss
spät, und das Wartezimmer war selten leer. Durch die schiere Masse von
Mandanten und die den Presbyterianern eigene Genügsamkeit reichte das Geld
nicht nur für die Ausgaben. Das Einkommen der McAvoys entsprach in York dem
einer Familie der oberen Mittelschicht. Wäre John gieriger, bei der Auswahl
seiner Mandanten wählerischer oder bei der Festsetzung der Honorare ein
bisschen härter gewesen, hätte er sein Einkommen verdoppeln und in den
Country-Club eintreten können. Aber er hasste Golf und mochte die reicheren
Bürger der Stadt nicht. Vor allem jedoch sah er seinen Beruf als Berufung, als
Verpflichtung, den vom Schicksal benachteiligten Mitmenschen zu helfen.
Im Jahr 1980 brachte Patty Zwillinge zur Welt, zwei Mädchen. 1983 wurde Kyle
geboren, der seine Tage schon in der väterlichen Kanzlei verbrachte, bevor er
in den Kindergarten kam. Nach der Scheidung seiner Eltern zog er es vor, bei
seinem Vater in der Kanzlei zu bleiben, statt zwischen beiden Elternteilen zu
pendeln, und jeden Tag nach der Schule machte er in einem kleinen Raum des
Reihenhauses seine Hausaufgaben. Mit zehn war er für die Bedienung des
Kopierers, der Kaffeemaschine und die Ordnung in der kleinen Bibliothek
zuständig. Sein Lohn betrug damals einen Dollar pro Stunde. Mit fünfzehn konnte
er eigenständig in juristischen Werken recherchieren und Memos zu häufig
wiederkehrenden Themen erstellen. Während seiner Zeit auf der Highschool war
er, wenn er nicht gerade lernen musste oder Basketball spielte, immer in der
Kanzlei seines Vaters oder begleitete ihn in den Gerichtssaal.
Kyle liebte die Kanzlei. Er plauderte mit den Mandanten, während sie auf ihren
Termin bei Mr McAvoy warteten, flirtete mit den Sekretärinnen und nervte die
Anwälte. In angespannten Situationen riss er Witze, insbesondere dann, wenn Mr
McAvoy sauer auf einen Untergebenen war, und er trieb Schabernack mit anderen
Anwälten, die in der Kanzlei vorbeischauten. Jeder Anwalt und jeder Richter in
York kannte Kyle, und es war nicht ungewöhnlich, dass er in einem leeren
Gerichtssaal auftauchte, dem Richter einen Antrag unterbreitete, notfalls
dessen Vorteile herausstrich und dann mit einer unterzeichneten richterlichen
Verfügung wieder verschwand. Die Angestellten des Gerichts behandelten ihn so,
als wäre er schon Anwalt.
Vor seiner Zeit auf dem College war er jeden Dienstagnachmittag um fünf in der
Kanzlei seines Vaters. Dann kam Mr Randolph Weeks vorbei, um einen Teil des
Anwaltshonorars abzubezahlen - im Frühling und Sommer mit Früchten und Gemüse
aus seinem Garten, im Herbst und Winter mit Schweinefleisch, Geflügel oder
Wild. Niemand wusste genau, wie viel er Mr McAvoy schuldete oder wie viel er
bereits abgezahlt hatte, aber Mr Weeks selbst glaubte ganz offenbar, noch in
seiner Schuld zu stehen. Vor vielen Jahren hatte er Kyle erzählt, dass dessen
Vater, "ein großartiger Anwalt", ein Wunder vollbracht und seinen
ältesten Sohn vor dem Gefängnis bewahrt
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