Grisham, John
fünfeinhalb Jahren hatte
sie vielleicht nicht so genau gewusst, was in der Wohnung geschehen war, doch
jetzt wusste sie es.
Er hatte niemanden vergewaltigt. Sie hatten Sex gehabt, ja, aber in
beiderseitigem Einverständnis, sogar auf Elaines Initiative hin. Doch in ihrem
Kopf war daraus nun etwas ganz anderes geworden.
Wenn eine Frau einwilligt, mit jemandem zu schlafen, kann sie es sich dann
anders überlegen, wenn man schon damit angefangen hat? Und wenn sie
einverstanden ist, aber mittendrin ohnmächtig wird, wie kann sie dann später
behaupten, sie hätte es sich anders überlegt? Das waren schwierige Fragen, und
während Joey nach Hause fuhr, rang er um Antworten darauf.
"Du
hast mich vergewaltigt, Joey."
Bereits der bloße Vorwurf ließ einen Verdacht entstehen, und zum ersten Mal
kamen Joey Zweifel. Hatten er und Baxter ihre Lage ausgenutzt?
Vier
Tage später ging Kyle bei der Poststelle von Scully & Pershing vorbei und
holte einen Brief von Joey ab. Es war eine detaillierte Zusammenfassung seiner
Begegnung mit Elaine, die auch Angaben über die von ihnen bestellten Sandwiches
und eine Beschreibung von Elaines Haarfarbe und Tätowierungen enthielt. Nachdem
Joey die Fakten aufgelistet hatte, schrieb er, was er von der ganzen Sache
hielt:
'BK
hat sich eindeutig eingeredet, dass wir sie zu mehreren vergewaltigt haben, JB
und BT mit Sicherheit und KM "vielleicht". Sie ist labil,
zerbrechlich, emotional gestört, aber gleichzeitig scheint sie es zu geniessen,
Opfer zu sein. Sie hat sich die richtige Anwältin ausgesucht, eine bissige
Zicke, die ihr glaubt und nicht zögern würde, uns einen Prozess anzuhängen,
wenn sie denn Beweise finden könnte. Sie hat den Finger am Abzug. Wenn dieses
Video auch nur halb so belastend ist, wie du sagst, musst du alles tun, damit
die beiden es nicht in die Finger bekommen. Elaine und ihre Anwältin sind zwei
Kobras, die den Hals gespreizt haben und kurz vorm Zubeißen sind.'
Der
Brief endete mit:
'Ich
weiß zwar nicht, wie mein nächstes kleines Projekt für dich aussehen wird, aber
ich würde es vorziehen, Elaine nicht wiederzusehen. Ich mag es nicht, wenn man
mich Vergewaltiger nennt. Das Ganze hat mich ziemlich fertig gemacht, außerdem
musste ich Blair anlügen, um die Stadt verlassen zu können. Ich habe zwei
Karten für das Spiel der Steelers gegen die Giants am 26. Oktober. Soll ich
dich anrufen und dir das sagen, damit deine Bewacher es auch wissen? Ich
glaube, es ist wichtig, dass wir zu dem Spiel gehen und besprechen, was wir als
Nächstes tun wollen. Dein getreuer Diener, Joey.'
Kyle
las den Brief und die Zusammenfassung in der Hauptbibliothek, wo er sich
zwischen Regalen mit uralten juristischen Fachbüchern versteckte. Joyes
Schilderung bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen, doch er hatte wenig
Zeit, darüber nachzudenken. Leise zerriss er die Seiten zu kleinen Fetzen, die
er in einen Papierkorb warf, als er die Bibliothek verließ. Alles Schriftliche
musste sofort vernichtet werden, hatte er Joey eingeschärft.
Das seiner Wohnung nächstgelegene Hotel war das Chelsea Garden. Zu Fuß konnte
er es in fünfzehn Minuten erreichen. Um elf Uhr an diesem Abend schleppte sich
Kyle die Seventh Avenue entlang und suchte danach. Wäre er nicht so müde
gewesen, hätte er den kühlen Herbstabend, an dem die Blätter über die Gehsteige
wirbelten und die halbe Stadt noch auf den Beinen war und irgendwohin wollte,
vielleicht sogar genießen können. Doch er schlief fast im Stehen ein und konnte
immer nur einen Gedanken auf einmal fassen, und selbst das war ihm zu viel.
Bennie Wright befand sich in einer Suite im zweiten Stock, wo er seit zwei
Stunden auf seinen "Spion" gewartet hatte, der die Kanzlei nicht früher
hatte verlassen können. Doch Wright machte das nichts aus. Sein Spion gehörte
in die Kanzlei, und je mehr Zeit er dort verbrachte, desto schneller kam er
selbst mit seiner Arbeit voran.
Trotzdem war Wrights erster Satz ein bissiges "Sie sind zwei Stunden zu
spät".
"Verklagen
Sie mich doch." Kyle legte sich aufs Bett. Das war jetzt ihr viertes
Treffen in New York, seit Kyle hierhergezogen war, und bis jetzt hatte er
Wright noch nichts gegeben, was sich dieser nicht anderweitig hätte beschaffen
können. Er hatte gegen keine einzige Standesregel verstoßen. Er hatte keine
Gesetze gebrochen.
Warum
kam er sich dann wie ein Verräter vor?
Bennie Wright tippte auf ein großes weißes Plakat aus festem Karton,
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