Grisham, John
einer ausgesprochen eisigen
Vorstellung setzte sich Joey den beiden Frauen gegenüber, mit einem dicken Kloß
im Hals und dem unbändigen Drang, Kyle McAvoy zu erwürgen. Wo zum Teufel war
Kyle eigentlich? Schließlich war er der Anwalt.
Elaines
Anwältin war eine attraktive Frau mittleren Alters.
Alles
an ihr war schwarz: Hosenanzug, dicke Korallenhalskette, Stiefel, Lidschatten
und - das war das Schlimmste - ihre Stimmung auch. Diese Frau war ein Pitbull.
Auf der Visitenkarte in Joeys Hand stand: Michelin "Mike" Chiz, Rechtsanwältin.
Ihr erster Satz klang sehr sachlich: "Mr Bernardo, meine erste Frage an
Sie lautet: Was machen Sie hier?"
"Wie
viele Fragen haben Sie?", gab Joey betont lässig zurück. Sein Pseudoanwalt
und Beinahemitangeklagter, ein gewisser Kyle McAvoy, hatte ihm versichert, dass
eine zufällige Begegnung mit Elaine Keenan keine Gefahr darstelle. Falls Elaine
vor Gericht gehen wollte, hätte sie das schon vor langer Zeit tun können.
Inzwischen waren fünfeinhalb Jahre vergangen.
"Mr
Bernardo ... Darf ich >Joey< zu Ihnen sagen?"
Da Michelin Chiz ihm vermutlich nicht erlauben würde, sie mit "Mike"
anzusprechen, sagte er Nein.
"Wie
Sie wollen. Ich habe nicht viele Fragen. Ich vertrete Ms Keenan schon seit
geraumer Zeit. Genau genommen arbeitet sie in Teilzeit für mich, als
Assistentin in meiner Kanzlei, und ich kenne ihre Geschichte. Also nochmal: Was
machen Sie hier?"
"Damit
eines klar ist - ich muss Ihnen gar nichts erklären.
Aber
ich werde versuchen, nett zu sein, zumindest für die nächsten sechzig Sekunden.
Ich arbeite für eine Brokerfirma in Pittsburgh, und wir haben einige Kunden in
Scranton. Ich bin hier, um diese Kunden zu besuchen. Gegen Mittag bin ich
hungrig geworden. Ich habe dieses Restaurant rein zufällig ausgesucht, bin
hineingegangen, habe Ms Keenan gesehen und sie begrüßt. Sie ist ausgeflippt,
ich wollte mit ihr reden, und jetzt stellt mir ihre Anwältin Fragen. Elaine,
warum genau brauchst du eigentlich eine Anwältin?"
"Du
hast mich vergewaltigt", platzte Elaine heraus. "Du und Baxter Tate
und Kyle McAvoy vielleicht auch noch." Als sie den Satz zu Ende gesprochen
hatte, standen ihr Tränen in den Augen. Ihr Atem ging schnell, fast keuchend,
als würde sie jeden Moment auf ihn losgehen wollen.
"Vielleicht,
vielleicht, immer nur vielleicht. Du hast nie gesagt, wie es wirklich gewesen
ist."
"Warum
wollten Sie mit meiner Mandantin reden?", erkundigte sich Ms Chiz.
"Weil
das alles ein Missverständnis war und weil ich mich dafür entschuldigen wollte.
Das ist alles. Nachdem Elaine behauptet hatte, sie sei vergewaltigt worden,
haben wir sie nie wiedergesehen. Die Polizei hat ermittelt und nichts gefunden,
weil nichts passiert ist, aber da war Elaine schon verschwunden."
"Du
hast mich vergewaltigt, Joey, und das weißt du."
"Elaine,
du bist nicht vergewaltigt worden. Wir hatten Sex, ich und du, du und Baxter,
du und fast alle anderen von Beta. Aber du hast das alles freiwillig
gemacht."
Elaine
schloss die Augen und fing zu zittern an, als hätte sie Schüttelfrost.
"Warum
braucht sie eine Anwältin?", fragte er Ms Chiz. "Sie hat sehr
gelitten."
"Ms
Chiz, ich weiß nicht, wie sehr sie gelitten hat, aber ich weiß, dass sie an der
Uni sehr wenig gelitten hat. Sie hatte nämlich gar keine Zeit dazu, weil sie
viel zu sehr damit beschäftigt war, auf Partys zu gehen. Jede Menge Alkohol,
Drogen und Sex, und es gibt haufenweise Leute, sowohl Männer als auch Frauen,
die ihr Gedächtnis in dieser Hinsicht wieder auffrischen könnten. Vielleicht sollten
Sie Ihre Mandantin erst einmal besser kennenlernen, bevor Sie sich dazu
hinreißen lassen, rechtliche Schritte gegen mich zu unternehmen, die sowieso
sinnlos sind. In Elaines Vergangenheit gibt es eine Menge Mist."
"Halt
die Klappe!", zischte Elaine.
"Sie
möchten sich also bei ihr entschuldigen?", fragte die Anwältin.
"Ja.
Elaine, ich entschuldige mich für dieses Missverständnis, egal was es war. Und
ich glaube, du solltest dich dafür entschuldigen, dass du uns etwas vorgeworfen
hast, das nie passiert ist. Und dafür, dass ich hier bin, will ich mich auch
entschuldigen." Joey sprang auf. "Das war keine gute Idee. Bis
dann."
Er
eilte hinaus, ging zu seinem Auto und verließ Scranton.
Wenn
er auf der Fahrt zurück nach Pittsburgh nicht gerade Kyle McAvoy verfluchte,
hörte er immer wieder ihre Stimme. "Du hast mich vergewaltigt, Joey."
Sie hatte verletzt und absolut sicher geklungen. Vor
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