Größenwahn
meine Tochter, hier hast Du einen Groschen!« Er warf einer bettelnden Streichholzverkäuferin einen Nickel hinein und stieg erhobenen Hauptes, im Bewußtsein eines solchen praktischen Christenthums, die Stiegen zum ›Café Liedrian‹ hinan.
Die Ueberraschung Frau Helenens beim Erscheinen Leonharts spottet aller Beschreibung.
»So? Mit den Kerls gehst Du um?« raunte sie ihm ins Ohr und girrte dazu zärtlich: ›Federigo!‹
Da er peinlich berührt zusammenzuckte, girrte sie weiter: »Ach simulire man nich! Ich weiß ja, wer Du bist. Und jetzt würde sich ja doch Einer von den Kerls da verplappern. Na, der Schreck, als ich Deinen Namen in Deinen Handschuhen las und mich nachher orientirte, wer Du bist. Also der berüchtigte Schreihals bist Du! Nein, was man nicht erlebt! Und nun giebst Du Dich gar mit solchen Leuten ab! Der da, den Du da mitgebracht hast, der mit dem Havelock – o dem hab' ich schon mehrmals Feierabend geboten, weil er sich so unanständig aufführte. Bei mir herrscht ein anständiger Ton. Ach und Deine andern Champagner-Freunde da hinten! Das scheinen mir auch die Nichtigen. Soll mich wundern, ob Die solche Zeche machen können!« So schwatzte sie fort, fiel ihm aber um den Hals, als er sie ärgerlich abschütteln wollte: ›Ach, ich liebe Dich ja doch, alter Freund! Dadrum keine Feindschaft nich!‹
Die großen Freiheitsapostel flegelten sich hinten in der Weinstube auf dem Kanapee umher und mehrere Champagnerflaschen kollerten bereits geleert aus dem Boden. Leonhart dachte unwillkürlich an eine gemüthliche Orgie der alten Schreckensmänner des Wohlfahrtsausschusses. Er wurde mit Halloh empfangen und bald plätscherten alle wie der Fisch im Wasser in Zotenreißerei umher. Der antisemitische Jüdinnen-Verehrer besah die Bilder an der Wand, welche Nuditäten durchsichtigster Gattung darstellten. ›Ist die nackigt!‹ rief er mit Extase. »Das Wasser läuft Einem im Munde zusammen!«
»Greis, schäme Dir!« kicherte Schmoller. Der Greis schlug sich jedoch kernig auf die Heldenbrust und betheuerte, indem er die holde Olga umarmte: ›Bin ich ein Mann? He, kann ich noch?‹
Olga gab alles zu, obschon sein Wein-Odem sie so widerlich betäubte, daß ihr der Fächer, mit welchem sie stets als
grande dame
zu paradiren pflegte, aus der Hand fiel.
»Ach, Sie wissen ein Weib so zu nehmen!«
»Na und ob! Wir sind doch auch noch so gut wie so'n oller laffiger Lieutnant mit 'nem Bürstenladen in der Tasche, wä?«
Hier hielt der finstre Redacteur, der laut Schmoller in Amerika einen Mord auf dem Gewissen hatte, die Gelegenheit für gekommen, um den ›verehrten revolutionären Dichter Leonhart‹ wegen seines Vortrags über den Größenwahn des Militarismus zu preisen.
»Ja, da haben Sie mal wieder einen Schuß ins Schwarze gethan, den Nagel just auf den Kopf getroffen. Hier sitzt der Kern alles Uebels. Der nationalökonomische Ruin des Staates wird durch das Wuchern dieses unproduktiven Standes unvermeidlich. Soll das arme überbürdete Volk etwa den Kastendünkel des rothen Kragens mit seinem blutigen Schweiße färben?«
»Hm, da haben Sie mich nun freilich doch nicht ganz verstanden,« wehrte Leonhart ab. »Gegen den Offizierstand, der heut das Ritterthum darstellt, habe ich gar nichts. Im Gegentheil. Die Offiziere müssen sich durch Kastengeist entschädigen. Denn abgesehen von schlechter Bezahlung (wofür freilich die Pension eintritt), wie entsetzlich steht es mit dem Avancement! Mit 42 Jahren Hauptmann – also etwa das, was in einem großen Handlungshause einer der Kommis I. Klasse bedeutet! Man muß hier unbedingt das Talent haben, alt zu werden. Gott sei Dank, sind 90 Procent der Offiziere ganz mittelmäßig und wählen den Beruf nur aus sozusagen physischen Gründen, weil sie für einen höheren Beruf keine Intelligenz haben. Allein, die höher Veranlagten, – was müssen die leiden! Denn in allen unteren Graden hilft ihnen ihre militairische Begabung größeren Stils ja nichts. Sie müssen günstigstenfalls 60 Jahr alt werden, um in eine Stellung zu kommen, wo sie ihr Führertalent entfalten können.«
Dieser belehrende Einwurf mißbehagte den Andern offenbar. Ebenso, als einiger Unsinn über den nächsten Krieg und Boulanger's Rolle vorgebracht wurde und Leonhart ruhig urtheilte: »Boulanger scheint der Dumouriez der neufranzösischen Republik. Solcher Leute Augenmaß sieht in einer Revolution keine Empörung, sondern eine Verschwörung. Ein geborener Revolutionär ist nie ein
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