Größenwahn
so ganz Unrecht hast Du darin nicht. Es giebt Leute, die wähnen, daß sie den Weihekuß des Realismus erhielten, weil sie ein paar ›Verhältnisse‹ und Ehebrüche auf dem Gewissen haben. Nächstens wird man hie Befähigung zum Realismus nicht nach der Beschaffenheit der Hirnsubstanz, sondern nach der Befähigung der Genitalien beurtheilen, – womit freilich auch vielen ›Idealisten‹ gedient wäre.«
So ging Leonhart auf die heftigen Ausfälle ein, mit welchen Schmoller die ›sogenannten Realisten‹ bedachte, da es natürlich nach seiner Schätzung überhaupt nur einen Realisten gab: nämlich ihn selber.
»Diese Me–nschen!« polterte er mit tiefer sittlicher Entrüstung. ›Bei denen der ganze Realismus im Ausmalen erotischer Situationen besteht! Als ob darin der Realismus steckte! Es ist zum Todtlachen. Noch nicht ins Leben hineingespuckt haben sie alle und glauben wunders was Großes zu vollbringen, wenn sie ihre kleinen Schäferstündchen lecker beschreiben! Wenn man nicht in Fabriken aufgewachsen ist, darf man überhaupt keine socialen Romane schreiben.‹
»Sociale – hm, in diesem Sinne, ja! Dann hätte aber auch Zola bis auf ›Germinal‹ nichts geleistet. Nein, nein, es regt sich doch allerorts ein sehr gesundes Streben. All diese neuen Unternehmungen und Bestrebungen, systematisch Stück für Stück das moderne Leben, speziell dasjenige Berlins, zu zergliedern auf der Grundlage einer wahren Anschauung der Dinge, sind an sich schon achtungswürdige heilsame Zeichen der Zeit. Mag auch das Dichterische in solchen Versuchen noch einer beträchtlichen Steigerung bedürfen, mag auch der Realismus noch etwas romantisch und zufallmäßig gefärbt sein, – nur entschlossen weiter auf dieser Bahn! Dem Muthigen hilft das Glück. Es muß durchaus mit der Süßholz-Litteratur aufgeräumt werden und der Schmerz des wirklichen Lebens die Kunst beherrschen. Solche Kunst allein kann sittlich wirken, da nur sie den Menschen lehren kann, sich über die Wirklichkeit entsagend oder beherrschend zu erheben. Die akademische Lügenkunst wirkt entsittlichend, indem sie ein entstelltes, optimistisch gefärbtes Bild des Lebens bietet, durch dessen Betrachtung der Ekel an der brutalen Wirklichkeit höchstens gesteigert werden muß. Nicht die Dinge ›verschönern‹, sondern sie verstehen ist gesund. Schön ist allein die Wahrheit. Wahr aber ist nicht nur das relativ Häßliche, sondern auch das relativ Schöne. Der Realismus unsrer heutigen colorirten Photographieen in der Malerei ist weit entfernt von dem gesunden elementaren Realismus der Renaissance-Meister. Und Zola ist noch lange kein Shakespeare. Heutzutage herrscht eine so trostlose Begriffsverwirrung, daß man kaum mehr weiß, was unter ›Idealismus‹ und ›Realismus‹ eigentlich zu verstehen sei. Wenn Einer geleckte Sonette drechselt oder hochtönenden Jamben-Bumbum ausspeit, heißt er ein idealer Dichter. Und wenn ein genialer Neuschöpfer in seine ›idealen‹ Conceptionen sachgemäße Cynismen verwebt, heißt er ein schmutziger Zolaist.«
»Hahaha, so nennen sie uns Beide ja auch!« lachte, Schmoller auf, indem er innerlich dachte: Na, auf Dich paßt's ja auch. ›Und die Idealisten – hoho, die muß man mal bei Lichte besehen.‹
»Ganz richtig. ›Idealist‹ sein bedeutet heut: auf die Vorurtheile und den Tagesgeschmack spekuliren. Christus hieße womöglich: ›Ein polternder Realist‹.«
Beide schritten der Dresdener Straße zu. Man wollte dort mehrere socialdemokratische Führer in einer Kneipe treffen, mit denen Schmoller einige Bekanntschaft pflog. Aus weiser Vorsicht kokettirte er nebenbei auch so lange mit den Christlich-Socialen, bis er deren Treiben kaustisch durch die Zähne zog. Denn Abwechselung muß sein. Er mokirte sich zugleich über Beide.
Als man jedoch an dem Rendezvous-Ort anlangte, ergab sich, daß die Herren hinterlassen hatten, sie würden ins ›Café Liedrian‹ steigen.
»Hoho, famos! Da werden nämlich die Agitationsgelder vom Klempner-Strike mit den Dirnen durchgebracht!« raunte Schmoller seinem Freunde ins Ohr, hochbegeistert von dieser Entdeckung einer neuerfundenen Schlechtigkeit. ›Also vorwärts, das wird ja famos! Du bist ja da bekannt, he, was, wie?‹ Sein Auge blinzelte boshaft.
Leonhart zauderte einen Augenblick. Eine fatale Situation. Doch sich sperren, schien hier das Ungeschickteste. Sie marschirten also dorthin.
Schmoller befand sich in seiner süffigsten Schimpf-und Verläumdungsstimmung. Er
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