Größenwahn
Amme. Ob wir heftig
Anklagen uns und rasch geschäftig
Vorhalten unserm Geist die Gründe,
Warum ja reizlos jede Sünde –
Hilft nichts! Wer je sich gab Consenz
Zur Sünde, fühlt die Consequenz:
Gewohnheit wird sie. Es verschwören
Sich Leib und Seele und empören
Sich gegen jedes Reformiren –
Wie Du begonnen, mußt Du's weiter führen.
Köstlich ist die Tugendentrüstung
Und pharisäische Selbstbrüstung,
Mit der wir auf Andrer Sünden schauen
Voll tiefem Ekel und staunendem Grauen,
Weil wir ihr Laster nicht können verstehen
Und nicht den geringsten Reiz drin sehen,
Vielmehr nur den Ekel davor begreifen.
Wie kann doch A. so weit ausschweifen,
Mit Demimonde sich abzugeben,
Während doch manche Ladies eben
So gerne sich verführen lassen!
»Wie?« spricht B. »Ich sollt' mich befassen
Mit solchem Gräul? Ich halte Hetären,
(Nun, als ob Andre Heilige wären!)
Doch Ehefrauen verführen, entsetzlich!
Auch find' ich's gar nicht sehr ergötzlich.«
Denn Jeder zurück vor der Sünde schreckt,
Welche ihm nämlich selbst nicht schmeckt.
Es giebt in Sünde nicht Maß und Grad,
Es giebt nur einen bestimmten Pfad.
Und wer »natürlich« gesündigt hat,
Wird vom Genusse genau so satt,
Wie von der »unnatürlichsten« Sünde.
Alle die pharisäischen Gründe,
Warum eins besser, das andre schlimmer,
Gelten vor'm Auge der Wahrheit nimmer.
Ans Meer der Freiheit drangen wir verschmachtend,
Mit glühnden Adern stürzten wir hinein,
Der Vorsicht ernste Mahnung nicht beachtend.
Wir tranken bittres Salz, als wär' es Wein,
Erkrankten und ertranken. Tyrannei
Jedoch gefoltert wird vom Einerlei
Des ewigen Durstes, des unstillbaren,
Des nur vermehrten, wenn erfüllbaren,
Nach Opferblut. Am Quell der reinsten Fluth
Verschmachtet sie, lechzt und erstickt an Blut.
Eis oder Wasser heißt der Unterschied,
Den zwischen Bösem man und Gutem sieht.
Ich singe die Sonne am Himmelszelt
Und den Wurm, den sie bescheint,
Und was nur blinkt, stinkt, greint und weint
Die ganze Welt.
Die Lerche steigt übers Korn hinan
Als Ode . Die Schnittermagd,
Sehnsucht-geplagt, an der Sense nagt –
Das ist ein Roman.
Der Greis, der über Jugendthorheit klagt,
Heimlich der eignen schwachen Weisheit flucht ...
Zeigt mir die Venus, die der Welt entsagt,
Und den Apoll, der nur die Sonne sucht!
»Ruhm ist Luft«. Doch wer kann leben
Ohne Luft?
Dumpf erstickt das reinste Streben
In lebendiger Gruft.
Bedenk' ichs recht, so scheint mir in Tibet
Die beste Herrschaft. Dalai-Lamawesen,
Was ist's am End', wenn Ihr's bei Licht beseht?
Die Herrschaft des Genies. Dort wird erlesen
Ein Kind, vom Hauch des Ewigen umweht,
Und was es spricht, macht man zu Glaubens-Thesen.
Nicht Schönheit, Reichthum, Macht und Rang erliest man:
Den Weisesten zum Erdengott erkiest man.
Ja, der Kulturmensch kreuzigt das Genie,
Wofern er's nicht zum Aschenbrödel macht.
Am Himalaya beugt man ihm das Knie,
Nimmt seine Worte als Gesetz in Acht.
Denn Gottesoffenbarung fühlen sie
In seiner Art: Der Allgeist sichtbar wacht
Auf seiner Stirn, der in der Schöpfung waltet,
Doch sichtbar schon als Genius hier schaltet.
Warum nicht Größenwahnsinn? Jeder Wicht
An gleicher Krankheit leidet und er ist
Grad so auf seiner Kleinheit Werth erpicht.
Nur daß man ihm zu zürnen stets vergißt,
Weil er nur lächerlich. Die Rotte flicht
Die Dornenkrone immer ihrem Christ,
Spricht er: »Ich bin Messias«, weil ihr Neid
Zu Haß wird aus verletzter Eitelkeit .
Ich soll mich angestammten Narren bücken
Und nicht dem Dalai-Lama? Nimmermehr!
Ich will den Fuß ihm küssen mit Entzücken.
(Ja, wenn es noch des Papsts Pantoffel wär',
Das würde manchen Pilger hoch beglücken!
Kein Unterschied! Unfehlbar ist auch der!)
Nach Tibet will ich wandern: Jesuiten
Und stehende Heere sind dort nicht gelitten.
Nur Eins mißfällt mir an den dortigen Sitten,
Ein Ding, man nennt's gelehrt: Polyandrie.
Dort weilt in eines Männerharems Mitten
Die zücht'ge Hausfrau. Denn heirathet sie,
So nahn dem Altar auch mit raschen Schritten
Des Bräutigams Brüder alle. Einer nie
Die Hochzeit mit ihr feiern darf, o nein,
Sein ganz Geschlecht nennt seine Dame sein.
Nun bin ich festiglich zwar überzeugt,
Daß jede Dame, die davon vernimmt,
Erklärt, daß dies von Sittenrohheit zeugt
Und »Pfui!« »Abscheulich!« »Shoking!« ruft ergrimmt.
Doch Manche heimlich seufzend auch vielleicht
Für
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