Gromek - Die Moral des Toetens
endlich zu ihr
durchgedrungen zu sein. Auf einmal wurde ihm bewusst, dass sie ihn etwas
anging. Er überlegte, wie es sein mochte, nach all den Jahren einem Menschen
das Leben zu schenken, statt es ihm zu nehmen, denn dies war die Seite, auf der
er Jahrzehnte lang gestanden hatte. Diejenigen, die er durch die Liquidation
seiner Zielpersonen ›gerettet‹ hatte, waren für Gromek immer eine anonyme Masse
gewesen. Menschen, die er nicht kannte und die von seiner Existenz und
Tätigkeit nicht einmal eine Ahnung hatten. Doch in diesem Fall war es anders.
Gromek war es nicht mehr gewohnt, sich auf einen anderen Menschen
einzulassen, und zum ersten Mal empfand er diesen Umstand als Verlust.
»Wolfgang Bubeck weilt nicht mehr unter uns«, antwortete er bewusst
lapidar, um nicht zu verraten, was ihm gerade durch den Kopf gegangen war.
»Aber die anderen zwei sind noch am Leben. Ich bin mir nicht sicher, ob sie
wirklich Sektion-4 -Agenten sind. Zumindest bei Alexander Holtz
könnte ich es mir gut vorstellen. Den anderen kenne ich nicht. Wir sollten in
Erfahrung bringen, wie sie zu der Sache stehen. Meinen Sie nicht auch?«
»Und wenn diese beiden - Alexander Holtz und Bedri ... wie? - nun
doch keine Sektion-4 -Kollegen sind? Oder Ihnen schlicht und
einfach nicht glauben? Und folglich nicht kooperieren? Was ist dann?!«
10 . Holtz
Es klingelte an der Wohnungstür. Alexander Holtz, Mitte 50, groß
und drahtig gebaut, kam leise an die Tür und sah durch den Spion. Schließlich
öffnete er,indem er einen Sicherheitsbügel zurücklegte und die Tür aufschloss.
Ein dunkelhäutiger UPS -Kurier stand vor der Tür und hielt
ihm ein Paket entgegen. Holtz quittierte den Empfang mit einem Griffel auf dem
LCD-Feld und wartete, bis der Bote wieder im Fahrstuhl verschwunden war. Kurz
darauf hatte er die Tür wieder abgeschlossen und den Sicherheitsbügel umgelegt.
Er trug das mehrere Kilo schwere Paket in sein Wohnzimmer, dessen
Rollläden halb heruntergelassen waren, und legte es auf einen Tisch aus
massiver Eiche. Er setzte sich bequem auf einen der Stühle und packte die
Lieferung mit einer Selbstverständlichkeit aus wie andere die Post eines
Versandhauses.
In einem handlichen Aluminium-Koffer fand Holtz das vor, was er
erwartet hatte: ein in mehrere Teile zerlegtes Präzisionsgewehr der Marke Erma SR-100,
Kaliber 300 Winchester Magnum , mit Acht-Schuss-Kapazität und
lichtstarkem Zeiss -Zielfernrohr. In zusammengebautem Zustand war es 135
Zentimeter lang. Außerdem enthielt der Koffer eine Kommunikationseinheit, einen
Autoschlüssel und die auf einer Kunststoffkarte aufgedruckte Skizze eines
Lagerhauses.
Keine zwanzig Minuten später verließ Alexander Holtz zu Fuß und
mit dem Aluminium-Koffer in der Hand eine jener anonymen Wohnanlagen Berlins,
die alle gleich aussahen und jeweils Hunderte von Mietparteien hatten.Er
machte sich auf zur nächsten U-Bahnstation, um seinen neuesten Auftrag zu
erledigen.
Mit der Linie U7 fuhr Holtz bis Rathaus Neukölln. Keinem der
anderen Fahrgäste fiel etwas an ihm auf. Von dort aus ging er zehn Minuten zu
der nächstgelegenen Haltestelle Herrmannplatz, wo er nach kurzem Warten die
Linie U8 bestieg und sich quer durch die Stadt bis zur Osloer Straße
transportieren ließ. Insgesamt hatte ihn der zurückgelegte Weg eine dreiviertel
Stunde gekostet. Wenig später startete Alexander Holtz einen blauen Ford
Escort , der dort auf dem Park & Ride-Parkplatz für ihn bereitgestellt
worden war.
Er verließ den Bezirk Wedding und steuerte die nächstgelegene
Autobahnauffahrt an. Sein Ziel war das rund 280 Kilometer entfernte Hamburg. Holtz
passierte die ehemalige Transitstrecke und fuhr weiter auf der A 24.
Ungefähr auf halbem Weg zwischen Berlin und Hamburg machte er an der Raststätte
Neustadt-Gleve Halt, um einen Kaffee zu trinken.
Schließlich überquerte er die Elbbrücken und war in Hamburg-Harburg
angelangt. Mächtige Containerschiffe lagen im Hafen vertäut. Kleine, flache
Schuten tuckerten, begleitet von kreischenden Möwen, mit ihren Lasten Richtung Speicherstadt.
In dem betriebsamen Industrie- und Hafenviertel am südlichen Stadtrand lenkte Holtz
den blauen Escort langsam durch Straßen, die mit parkenden LKWs gesäumt waren.
Beladene und unbeladene Gabelstapler kreuzten seinen Weg. Kleinlaster und
Containertransporter donnerten an ihm vorbei. Was auf den ersten Blick wie ein
großes Chaos aussah, lief in Wirklichkeit streng nach System.
Vor einem heruntergekommenen Lagerhaus
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