Gromek - Die Moral des Toetens
Frage.«
Der Fahrstuhl hielt im fünften Stock an, und die Türen fuhren
leise auseinander. Lisa verstummte. Zwei Schwarzafrikaner in maßgeschneiderten
Nadelstreifenanzügen traten in die Kabine und grüßten auf Französisch. Mit
einem etwas gezwungenen Lächeln erwiderten Gromek und Lisa den Gruß.
Einen Stock höher verließen sie den Fahrstuhl und waren wieder
unter sich. Sie bogen nach rechts ab und liefen langsam den mit dickem
Teppichboden ausgelegten Hotelflur entlang.
»Welches Zimmer ist es?«
»Welches hätten Sie denn gern?« fragte Gromek zurück.
Lisa verdrehte die Augen: »Solange Sie nicht in die
Präsidenten-Suite wollen, ist mir jedes Zimmer recht.«
Am Ende des Ganges blieben sie stehen. Gromek lauschte. Einen
Augenblick später öffnete er die Tür mit seiner Universal-Schlüsselkarte und
trat ein. Lisa folgte ihm. Das Zimmer war leer und dunkel. Es war eines von
denen, die einen Blick auf das Brandenburger Tor boten. Doch keiner von ihnen
würdigte das geschichtsträchtige Wahrzeichen der Stadt auch nur mit einem
einzigen Blick.
Lisa schaltete das Licht ein und schloss die Tür ab, während Gromek
die Vorhänge der Fensterfront zuzog und darauf achtete, dass kein Spalt
offenblieb, durch den man hätte hineinspähen können. Anschließend ließ er sich
auf das bequeme Doppelbett fallen, welches vor einer der Wände stand, holte mit
dem unverletzten Arm sein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte. Es dauerte
eine Weile, bis sich am anderen Ende der Leitung jemand meldete, bei dem er
seine Mitteilung loswerden konnte:
»Hotel Adlon , sechster Stock, Zimmer 621. Vom Fahrstuhl aus
rechter Hand. Vergessen Sie ihre Werkzeugtasche nicht. Gromek Ende.«
Ohne auf eine Antwort seines Gesprächspartners zu warten, beendete
Gromek das Telefonat. Er steckte das Handy wieder in die Innentasche seines
Jacketts und schloss die Augen.
Lisa hatte es sich in einem von zwei großen gepolsterten Sesseln
bequem gemacht. »Endlich ausruhen!«, dachte sie. Jedenfalls beinahe - erst
wollte sie noch mehr über diesen Arzt wissen, den sie hier erwarteten.
»Ein Invalide, sagten Sie? Wie ist sein Name - und was können Sie
mir sonst über den Mann erzählen?«
»Gerhard Nelling, achtundfünfzig Jahre alt, Oberstleutnant a.D.
der Bundeswehr und ausgebildeter Chirurg«, gab Gromek zur Antwort, ohne die Augen
zu öffnen. »Er war seinerzeit für ein halbes Jahr in Bijeljina in Bosnien
stationiert. In der letzten Woche vor seiner Abkommandierung zurück nach
Deutschland wurden zwei Granaten unbekannter Herkunft auf das deutsche Lager
abgefeuert. Nelling hat überlebt, zwei freiwillige Wehrdienstleistende nicht.
Ich kenne ihn seit acht oder neun Jahren.«
»Alexander Holtz kannten Sie seit wie vielen Jahren - 25?«
Michael Gromek öffnete die Augen und sah zu Lisa hinüber. Es
schien, als wollte er etwas sagen, aber er tat es nicht. Stattdessen drehte er
den Kopf zurück und ließ die Augen wieder zufallen.
Eine knappe halbe Stunde später klopfte es leise an die Tür. Lisa
war als erste wach. Erschreckt stellte sie fest, dass sie beide vor Erschöpfung
eingeschlafen waren. Was für ein leichtes Ziel hatten sie und Gromek abgegeben!
Sie stand auf, doch Gromek hielt sie mit einem Handzeichen zurück. Noch während
er sich aufrichtete, zog er seine Glock unter dem Jackett hervor und
entsicherte die Waffe. Er signalisierte Lisa, sich ebenfalls zu bewaffnen. Als
sie damit fertig war, ging er leise zur Tür und stellte sich direkt daneben. Er
bedeutete Lisa mit einer weiteren Geste, dass er bereit sei und sie auf das
Klopfen reagieren solle.
»Ja. Wer ist da?« rief sie, während sie ihre entsicherte SIG-Sauer auf die Tür richtete.
»Nelling! Wer sonst, verdammt noch mal!« tönte es aus dem Flur.
»Ich habe nur ein gesundes Bein und keine Lust, hier lange Konversation zu
betreiben oder erst noch einen Stepptanz aufzuführen, bevor ich eingelassen
werde. Also, wird das heute noch was, junge Frau!?«
Gromek lächelte, als er Nellings vertraute Stimme hörte, ließ sich
aber dennoch nicht zu einer Unvorsichtigkeit verleiten. Leise drehte er den
Schlüssel im Schloss, dann trat er einen Schritt zurück und rief: »Die Tür ist
offen. Aber Du solltest langsam hereinkommen, damit keine Missverständnisse
entstehen.«
»Langsam? Machst Du Witze? Willst Du mich auf den Arm nehmen? Mir
scheint, wir haben uns schon zu lange nicht mehr gesehen!«
Die Tür ging auf, und ein untersetzter Mann mit kugelrundem
Gesicht kam ins
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