Große Ferien
bäumte. Einen Witz, wie Schramm sich erinnerte, hatte der Bruder gemacht, über die neue Aufmachung des Wirtshauses mit seinen malvenblassen Tischdecken, die gleichfarbigen Kellnerinnenschürzen, bodenlang. Vor dem Spielwarengeschäft waren sie stehen geblieben, vor dem Eiscafé, und zuletzt vor den Fenstern der Boutique Seel.
Bald sämtliche Nachmittage hatte die Mutter dort zugebracht. Tagtäglich nach dem Mittagsabwasch war sie ins Schlafzimmer verschwunden, hatte ein frisches Kostüm aus dem Schrank genommen und lange vor dem Spiegel ihre Lippen nachgezogen. Mit onduliertem Haar, in ihren weißen Handschuhen und dem frischen Kostüm lief sie die zehn Minuten in die Stadt. Wenn sie von der Stadt sprach, meinte sie in Wahrheit das Geschäft von Frau Seel. Im Innern hielt diese es zu allen Jahreszeiten gleich dunkel und warm. Fast vollständig waren die Fenster mit Ware verhängt, so dass man beim Eintreten das Wetter vergaß, das Zwitschern und das Licht draußen am Platz. Man betrat eine Höhle, folgte ihren Gängen und Verzweigungen in die Tiefe, in einen von einem gründlichen Tier angelegten Bau. Eng aneinandergerückt, saß die Mutter mit ihren Freundinnen hinter dem Ladentisch, rauchte ihre langschaftigen Zigaretten und führte ausgedehnte, raunende Unterhaltungen, die auf der Stelle aussetzten, wenn eine Kundin das Geschäft betrat. Der Bruder war als Kind, noch als Schulkind an der Mutterhand mit dorthin spaziert. Reglos hockte er unter den Säumen der aufgehängten Abendkleider und beobachtete, wie die Kundin vor dem Spiegel auf und ab stolzierte, gefolgt von Frau Seel, die ihr mit beiden Händen am Rock herumzupfte.
Immer lustiger, dachte Schramm, waren sie über dem Erzählen geworden, vor den Auslagen des Boutiqueschaufensters. Nur das wusste er noch und nicht mehr, wie sie im Reden von Frau Seel zu Herrn Simon gelangt waren, wo zwischen beiden doch überhaupt keine Verbindung bestand. Eine nicht einmal abfällige, nicht geringschätzige, eine bloß so dahingesagte Bemerkung hatte Viktor gemacht über Simon. Schramm selbst musste ja mit ihm lachen, über die Tiernamen, die sie den Mietern jeweils gegeben hatten. Und dabei, sagte Viktor, sei keiner dieser Namen passend gewesen, hätten doch diese Mansardenbewohner im Grunde genommen einer wie der andere sämtlich derselben Spezies zugerechnet werden müssen, oder jedenfalls derselben wechselwarmen Klasse. Einer wie der andere, sagte der Bruder und erinnerte daran, wie diese Mieter jeweils mit ihren Koffern, am späten Nachmittag, über die Einfahrt, ins Treppenhaus, lautlos die hölzernen Stiegen hinaufgehuscht waren, in ihre Mansarde, von wo man, bis auf gelegentliches Rascheln, gelegentlich das Rücken schwerer Gegenstände über den Estrich und das Zischen des Tauchsieders, nichts von ihnen vernommen hatte bis in den Abend hinein.
Weiter wusste der Bruder nichts. Nichts von dem Tee, den Herr Simon aus Casablanca mitgebracht hatte, wohin er, wie er Schramm einmal erzählt hatte, regelmäßige Reisen unternahm. Der Bruder hatte sich um die Mieter nie viel geschert, er hatte sich damals schon von der Familie abzusondern begonnen, schon da, kurz nach dem Unfall des Vaters, war es so weit gewesen, dass sie kaum etwas miteinander zu reden hatten, weil das über die Familie gekommene Unglück sie einander nicht näherbrachte.
Es entfernte sie nur noch weiter voneinander, und bis zum Morgen brannte in Viktors Zimmer das Licht. Seine Augen wurden kleiner, die Gänge, die er an den Nachmittagen unternahm, ausgedehnter. Selten erschien er noch zu den Mahlzeiten, höchstens, wenn er sich wieder Geld borgen wollte, das die Mutter ihm, trotz aller Zankereien, jedes Mal aufs Neue lieh. Und selbst wenn er mit ihnen am Tisch gesessen hatte, dachte Schramm, war der Bruder doch immer nur halb da gewesen, hatte er da schon diesen speziellen Ausdruck aufgesetzt, diesen von außen schauenden, die Verhältnisse ganz und gar durchdringenden Blick. Nicht was er, sondern wie Viktor die Dinge sagte, dachte Schramm, brachte ihn auf. Darum hatte er in dem einen Moment auf Viktors Anspielung geschwiegen, und erst auf sein drängelndes Nachfragen hin erwidert, laut geworden: Was weißt denn schon du.
Noch am selben Tag war der Bruder abgereist. Von vornherein hatte er es so geplant. Obwohl im Haus nun mehr als genug Platz vorhanden war, hatte er nicht bleiben wollen. Er habe viel zu tun und müsse zurück in die Stadt.
Weiß und rot war das Gesicht Herrn Simons gewesen. Für
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