Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Bußmann
Vom Netzwerk:
in Einigkeit nichts daran, sie können sich ihrer Einigkeit noch so sicher sein, sie machen sich doch nur selbst und gegenseitig etwas vor.
    Mehr und gründlicher als jeder andere Mensch hatte Waidschmidt diese Sachen in seinem harten Schädel hin und her gewendet. So viel wusste Schramm. Doch war er nicht damit hausieren gegangen, er hatte sich herausgehalten, wenn die anderen Lehrer ihre Mutmaßungen anstellten, weshalb dieser Junge sich so und nicht anders entwickelte, man müsse doch verstehen. So etwas ist niemals gut. Schramm musste nur an die Bilder denken, an den Lärm, den es gegeben hatte um diese Fotografien, teils gestellte, teils verfälschte Aufnahmen ohne vernünftigen Zusammenhang. Mit hässlichen Kommentaren versehen, wie es hieß, mit Erniedrigungen und Beleidigungen. Jeder kann es sich ansehen im Netz, hatte die Vertrauenslehrerin gesagt, auf seinem Computer oder seinem Handy, aber darauf gab Schramm nicht viel. Zu gut erinnerte er, wie früher umgesprungen wurde mit einem, der in Ungnade gefallen war; es gab Quälereien ganz anderer Art. Gelacht hätte man, Opfer wie Henker hätten gelacht, sagte Schramm, über ein paar zusammengebastelte Fotografien. Davon war Schramm bis heute überzeugt. Eins war gewiss, es hatte nichts mit einem Streich seiner Gefährten zu tun gehabt, dass Waidschmidt zuletzt nicht mehr bei sich gewesen war. Nichts mit einer albernen Hänselei, nichts mit einem Mädchen oder irgendeiner anderen äußeren Begebenheit. Einer wie Waidschmidt, so viel war sicher, holte auch seine Verrücktheit aus sich selbst heraus.
    Was er auch tat, war von dieser schon schmerzlichen Reinheit des Sinustons. Statt eines Klangs immer bloß eine schwingende Linie, eine nadelgezogene Spur. Ganz gleich, ob er eine Gleichung löste, eine Sonate vortrug, den Ball am Gegner vorbei kurvte, er tat es glatt und sparsam, ohne verschwendete Bewegung. Über die Weite des Fußballfeldes konnte Schramm die senkrechte Falte zwischen den Brauen nicht sehen und wusste sie doch, wusste um das Vibrieren der Schläfenhaut, wenn Waidschmidt seine Kiefer aufeinanderpresste, an einer Entschlossenheit malmte, wie sie nur für Junge und Wahnsinnige in Frage kommt.
    Der Vorgang im Gehirn, sagte Waidschmidt später, habe ihn interessiert: Zur Rede gestellt, nachdem er beim Training der Schulmannschaft ohne vernünftigen Anlass ausfällig geworden war. Schramm war dabei gewesen. Er hatte den kleinen Trick gesehen, von einem, der mit Waidschmidt in die gleiche Klasse ging, im Physikunterricht zwei Reihen vor ihm saß. Ein kleiner Kerniger mit katerbreitem Kopf, Falten im Nacken. Gelassen, bedächtig hatte der Waidschmidt beiseitegeschoben, ihm den Ball abgejagt und schon wieder abgespielt im langen Pass. Eben den Arm winkelnd zur Geste des Jubels, als Waidschmidt ihn seitlich ansprang, zu Boden warf. Viel zu lange lagen sie so miteinander da, bäuchlings einer wie der andere, Waidschmidt mit aufgebogenen Schultern, gehobenem Brustbein, ein Schäferhund, der sein Holz fasst und darauf aufpasst, stolz und zu verzogen, das Apportierte freizugeben. Mit übereinandergelegten Händen hielt er den Unterarm des Kameraden aufs Kreuz geschmiegt, bis der Trainer über die Weite des Feldes zu ihm hingetrabt war, mit ausgestrecktem Arm zur Seitenbank wies.
    Wir wissen nie, was der andere denkt, sagte Waidschmidt, und woher nehmen wir Gewissheit über sein Vorhandensein, fragte er und fixierte Schramm mit seinem unter den Flatterwimpern sturer werdenden Blick. Es war nicht gesund. Wenn man sich darauf einließ, nahm es kein Ende, auf jede Gegenfrage hatte Waidschmidt eine Erwiderung und auf die darauf folgende wieder eine, weil die Schaltkreise zu rasch zuschnappten in seinem Kopf, rascher, als er es selbst verstand.
    Das Korrigieren, es wird mit der Routine zum Reflex. Schon bevor die falsche Äußerung zu Ende gesprochen ist, sitzt es dem Lehrer an der Zungenwurzel. Aus der Welt muss der Fehler, denn so schnell er sich einschleift, so mühsam treibt man ihn aus. Weißt du eigentlich, was du da sagst, fragte Schramm. Was hatte ihn derart beunruhigt. Nicht die kindische Selbstüberhöhung war es gewesen, nicht dieses angedaute, mit großer Geste ausgeworfene Gedankengewöll. Es war typisch. Geradezu vorgesehen, in dieser Phase, solche Sätze, als hätte sie noch keiner gedacht, zu sich herzubiegen, strahlende Phantasien, etwas in seinem Größenwahn Kleinmütiges, das sich in aller Regel bald gab. Warum hatte es ihn bei Waidschmidt mehr

Weitere Kostenlose Bücher